Glaswelt – Herr Röttger, Jalousien-Isolierlas und integrierte Sonnenschutz-Systeme in Verbundfenstern finden wir seit über 30 Jahren ab und an. Warum zählen solche Systeme nicht zur Standard-Ausstattung bei Fassaden?
Mirco Röttger – Die Wahl des richtigen Sonnenschutzes ist mit zunehmenden Wetterextremen wieder stärker im Fokus. Hierbei kann man zwischen zwei gleichwertigen Alternativen unterscheiden, die für eine gute energetische Ausstattung der Glasanteile einer Fassade in Frage kommen. Auf der einen Seite steht der klassische außenliegende Sonnenschutz, meist ein Raffstore, gepaart mit einer separaten Mehrscheiben-Isolierverglasung und auf der anderen Seite die integrierten Jalousie und Rollo-Systeme zwischen mindestens zwei Scheiben. Grundsätzlich bedingen die energetische Planung, die Nutzung, die bauliche Situation, das Credo des Planers und das Budget des Bauherrn den Einsatz von separaten Baukomponenten oder Multifunktion. Das wirkt auf den ersten Blick extrem, ist aber schulssendlich anwendungsbezogen.
Glaswelt – Sie sprechen von Multifunktion, was heisst das im Detail?
Röttger – Hinter dem Wort Multifunktion eines Jalouisen-Isolierglases stecken im Wesentlichen zwei Hauptfunktionen. Zum Einen bietet der Teil des Isolierglases modernsten winterlichen Wärmeschutz und hochtransparente Durchsicht bei komplett hochgefahrenem Jalousiebehang. Zum Anderen sorgt die integrierte Jalousie im komplett heruntergefahrenem Zustand für vollständigen Sonnen-, Sicht- und Blendschutz. Beides zusammen ergibt einen sehr guten sommerlichen Wärmeschutz mit niedrigem gesamtenergiedurchlass (g-Wert). Dieser ist annähernd vergleichbar mit einem Standard-Wärmeschutz-Isolierglas in Kombination mit einer separaten Außenverschattung. Ein netter Nebeneffekt ist ein erhöhter Schallschutz aufgrund des etwas größeren Scheibenzwischenraums (SZR) und die feinere Lichtlenkung durch die schmaleren Lamellen
Glaswelt – Warum entscheide ich mich dann nicht gleich für den g-Wert-Mercedes mit einem vorgelagertem außenliegenden Sonnenschutz?
Röttger – Grundsätzlich sorgt der außenliegende Sonnenschutz, sofern es sich um eine Raffstore-Jalousie handelt, als primäre „Sonnen- und Hitzebremse für die besten Werte. Durch seine vergleichsweise einfache Technik ist er zudem in den Anschaffungskosten einzeln betrachtet auch günstiger. Die Vorteile für integrierte Systeme entstehen erst in der Kombination der Komponenten, der Montage und der Nutzung sowie der Wartungskosten.
Glaswelt – Welche da wären?
Röttger – Durch das Integrieren der Sonnenschutzkomponente in die Verglasungsebene, fällt nicht nur eine komplette Konstruktionsebene weg, sondern auch die separate Montage dafür. Jalousie und Isolierglas werden in einem Zuge vom jeweiligen Fenster- und Fassadenbauer in die Rahmenkonstruktion eingeglast. Das Gewerk Jalouisenbau, wie wir es klassischerweise auch betreiben, entfällt. Was gleich bleibt, sind die Anschlussarbeiten durch eine Elektrofachkraft.
Glaswelt – Wenn eine Konstruktionsebene wegfällt, wird die Fassade dann nicht dünner?
Röttger – Weniger konstruktiver Außenraum ist gleichbedeutend mit mehr nutzbarem Innenraum. Der Planer nennt es gerne mehr Bruttogrundfläche, der Betreiber mehr produktive Mietfläche. Tatsächlich rücken unter Umständen Schreibtisch, Werkbank oder das Sofa näher an den Außenraum. Je größer und höher das Gebäude, desto mehr wird sich dies auch monetär bemerkbar machen. Sprich Investoren können insbesondere bei hohen Gebäuden mit vielen Etagen ein Mehr an Raum verkaufen bzw. vermieten.
Glaswelt – Wenn wir schon in die Höhe gehen, wie sieht es dann mit Wind und Wetter aus?
Röttger – Einer der entscheidenden Vorteile von integrierten Sonnenschutzsystemen ist die wetterunabhängige Nutzbarkeit über das ganze Jahr hinweg. Während außenliegende Jalousien ständig mit Verschmutzung zu kämpfen haben und sie bei höheren Windgeschwindigkeiten zur Sicherheit oben eingefahren werden müssen, bleiben bei der Jalousie im SZR die Privatsphäre und Blendschutz unverändert und uneingeschränkt erhalten. Der Reinigungsaufwand für den Sonnneschutz entfällt komplett, das senkt die Instandhaltungskosten deutlich. Auch Wartung oder Reparatur der außenliegenden Systeme fällt weg, ebenso die Notwendigkeit eines Windwächters.
Glaswelt – Ein Nachteil ist doch, dass man an die Jalousie gar nicht mehr herankommt?
Röttger – Und genau das ist ein weiterer Vorteil. Wenn Wind, Regen und Umweltemission außen vor bleiben, hat auch Manipulation und Vandalismus keine Chance. Was einmal eingebaut ist und läuft, das läuft im Regelfall auch über die Lebenszeit eines Isolierglases. Sollte es tatsächlich zu einem eher seltenen Antriebsausfalls kommen, beispielsweise durch Überspannungsschäden in Folge eines Gewitters, bietet sich bei vielen Systemen die Möglichkeit eines nachträglichen Antriebstausches direkt an der Isolierglaseinheit.
Glaswelt – Braucht der im SZR integrierte Sonnenschutz also eine zweite Chance?
Röttger – Aus einer ersten Idee mit einigen Anlaufschwierigkeiten hat sich das System mit integriertem Sonnenschutz im Isolierglas mittlerweile zu einem zuverlässigen Fassadenelement entwickelt. Die Kinderkrankheiten sind austherapiert. Sentimental wird nur noch derjenige, der immer noch glaubt, dass es keine Alternative zu einer klassichen Außenverschattung geben mag.
Das Interview führte Matthias Rehberger