_ „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ – muss man mit diesem doch etwas abgegriffenen Zitat von Victor Hugo ausgerechnet einen Artikel über Zukunftstechnologien einleiten? Die Versuchung ist groß angesichts des folgenden Beispiels aus Castellon, Spanien. Wir schauen einige Jahre zurück: 2008 realisiert das Softwarehaus A+W gemeinsam mit seinen Maschinenpartnern Hegla und Bystronic bei dem mittelständischen Isolierglashersteller und Climalit-Partner Comayco eine automatisierte Isolierglasfertigung mit DynOpt-gesteuerter Sortierung im Zuschnitt und vollautomatischer Roboter-Verpackung am Ende der Linie. Die gesamte Fertigung mit ca. 640 Einheiten pro Schicht wird von 4 Mitarbeitern „gefahren“. Die Anforderungen an die Verpackung sind die gleichen wie heute: Unter Einhaltung der technischen Restriktionen soll der Roboter die Scheiben automatisch in vorgegebener Sequenz zuverlässig auf Transportgestelle abstellen.
Das Erfolgsprojekt, das die Produktivität von Comayco bei gesunkenen Fertigungskosten signifikant erhöht, wird von der Branche aufmerksam beobachtet, aber zunächst nicht großflächig aufgegriffen. In den folgenden Jahren werden von A+W und den Maschinenpartnern des Softwarehauses mehrere, auch deutlich größere Isolierglaswerke hoch automatisiert, aber das Abstellen am Linienende geschieht weiterhin manuell. Erst acht Jahre später sehen wir diese Technologie zum ersten Mal auf der glasstec. Warum nicht früher? Offenbar war die Branche nicht reif für das Konzept – jetzt, so zumindest die Ansicht führender Maschinenhersteller, ist sie es.
Sicherlich ist es nicht der Industrie 4.0-Hype allein. Die Offenheit für Hightech-Lösungen hängt mit veränderten Kostenstrukturen und mit einer herausfordernden Marktsituation zusammen. Die Fensterbranche öffnet sich nach und nach für die automatische Verglasung direkt vom Rack: Der Verpackungsroboter beim ISO-Hersteller kommuniziert mit dem Verglasungsroboter beim Fensterbauer, der ja die tatsächliche Verpackungssequenz „kennen“ muss – diese Datenkommunikation steht für Industrie 4.0 pur. Das alles trägt dazu bei, dass der Markt offener wird für ein Konzept, das schon seit acht Jahren zuverlässig funktioniert.
Industrie 4.0: Keine Revolution
Das Beispiel zeigt, dass Industrie 4.0 nichts ist, was plötzlich über uns hereingebrochen ist. Wir haben es mit einer jahrzehntelangen Entwicklung zu tun, die sich durch zunehmende Digitalisierung, mit sich verändernden Märkten als Katalysator, rapide beschleunigt. Grafisch dargestellt sehen wir eine ansteigende Kurve, die abhängig von den betrachteten Daten, imponierend steiler wird. Es darf als gesichert gelten, dass diese Tendenz in den nächsten Jahren zunehmen wird. Die Technologiepartner der Glasindustrie, Softwareentwickler wie Maschinenlieferanten, werden die neuen Chancen weiter erschließen – der Markt ist, wie wir sehen, gegenwärtig weit offen dafür.
Vom Bestellfax zum Webshop
Industrie 4.0 beginnt aber nicht in der Werkshalle: Unternehmensübergreifende, hoch mobile Kommunikation im kaufmännischen Bereich ist vielmehr Voraussetzung für erfolgreiche automatisierte Fertigung. Für viele Glas- und Bauelemente-Kunden beginnt diese Kommunikation künftig im Webshop. Der gewinnt vor allem als mobile Lösung enorm an Attraktivität: Online-Konfiguratoren wie A+W iQuote sind auf Tablet-Nutzer zugeschnitten. Innovative Softwareanbieter schaffen so Kommunikationswege, die vor sechs Jahren – da erschien das erste iPad – erst möglich wurden. Die Kommunikation zwischen Marktpartnern wird damit in Zukunft noch schneller, flexibler und sicherer werden, die darunter liegenden Prozesse entsprechend effizienter und preisgünstiger. Diese Veränderung brauchte ein halbes Jahrzehnt von der Verfügbarkeit der mobilen Endgeräte bis zur praktischen Umsetzung intelligenter Web-Konfiguratoren wie A+W iQuote in den Branchen, die wir hier betrachten.
Andere werden vermutlich etwas mehr Zeit brauchen – Industrie 4.0 geht eben nicht von heute auf morgen. Aber vielleicht betreiben Sie zu Hause schon einen kleinen 3D-Printer?
3D-Druck für die Variantenfertigung
Es ist oft schwer, die künftigen Einsatzmöglichkeiten vergleichsweise junger Technologien einzuschätzen. Der 3D-Druck jedoch wird auch der Bauelementebranche mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Paradigmenwechsel bescheren. Nicht heute und morgen, aber sicherlich übermorgen. Schnellere Durchlaufzeiten, leichtere und stabilere Bauteile sowie eine bislang unbekannte Formgebungsfreiheit sind führende Argumente.
Es hat den Anschein, als hätten sich in der Bauelemente-Industrie bislang hauptsächlich Profilhersteller vorsichtig dem Thema angenähert; aber schauen wir auf den Entwicklungsstand bei Pionierbranchen wie etwa den Flugzeugbauern, wo hoch feste gedruckte Elemente bereits in Passagierflugzeugen verbaut werden, so gerät die gesamte Vielfalt der Bauelemente-, Fassaden- und Metallbau-Industrie ins Blickfeld, ebenso der komplette Bereich Sonnenschutz und Tore.
Die nächste Ingenieurs- und Entwicklergeneration wird umdenken müssen. Werden heute dank intelligenter Schnittstellen CNC-Center direkt aus der CAD-Software angesteuert, so wird der Produzent in Zukunft unmittelbar aus seinem 3D-Konstruktionssystem hochwertige Bauteile drucken. Die Fertigung wird kostengünstiger, denn sie ist nicht mehr Werkzeug gebunden.
Die Bauelemente-Industrie betreibt wie die Flugzeugindustrie keine Massenfertigung. Der 3D-Druck hat insbesondere in der Variantenfertigung bei der Herstellung verschiedener Teile in kleinen Losgrößen enorme Vorteile: 3D-Druck ist der ideale Partner für Losgröße 1. Ein Hindernis ist zweifellos die vergleichsweise geringe Wertschöpfung der Branche – ein Fenster ist nun mal kein Airbus. Wir wissen noch nicht, wie sich die Investitionskosten für die Technologien entwickeln. Es bleibt also erst mal spannend.
Kann man Bauglas drucken?
Zwei russische Wissenschaftler haben kürzlich ein Patent für den 3D-Druck mit Glas eingereicht. Mit der Lösung können Wände, Böden und andere Strukturen aus Glas schichtweise aufgebaut werden. Die Wände können sowohl mit niedriger Dichte (Schaumglas) als auch mit einer hohen Dichte von 4000 kg/m³ additiv aufgebaut werden. Auch mehrschichtige Glaswände sind mit dem 3D-Druckverfahren möglich und können zusätzliche Farben, Lichtreflexionen, Leiter-Fähigkeiten und weitere Eigenschaften beinhalten.
Der 3D-Druck mit Glas funktioniert, indem die Rohmasse fortlaufend einem kompakten Schmelzofen zugeführt wird. Der Ofen ist die Extrusionseinheit des 3D-Druckers. Ein integrierter Plasmabrenner sorgt für die Glättung der gedruckten Strukturen wie Wände oder Böden.
Wir wissen nicht, wann diese Idee zu einer „mächtigen“ im Sinne des einleitenden Zitates werden wird, aber einen interessierten Augurenblick ist sie allemal wert – es ist wie in dem Beispiel der Firma Comayco aus Castellon in Spanien, die wir eingangs betrachtet haben: Nicht alles, was bereits möglich und bewährt ist, wird von der Industrie unmittelbar aufgegriffen und großflächig ausgebracht. Die Rahmenbedingungen müssen gegeben sein: Zunehmende Digitalisierung und wachsende Nachfrage nach Automation sind die Treiber von Industrie 4.0 – das hat die glasstec 2016 eindrucksvoll gezeigt, und diese Entwicklung wird sich rasant fortsetzen.—