_ Der Begriff Innovation wird heutzutage inflationär genutzt. Alles gilt als innovativ, was nur ein bisschen neu erscheint oder leicht verändert ist. Innovationen sind aber wesentlich mehr. Sie sind in ihrem Ergebnis etwas Neuartiges, das sich gegenüber dem vorangegangenen Zustand merklich unterscheidet und aus der Sicht der relevanten Anwender nützlich erscheint und nachgefragt wird.
Die Digitalisierung ändert alles
Genau hier liegt auch die Herausforderung für die Fenster, Fassaden- und Glasindustrie. Die Digitalisierung und der Wertewandel zu einem nachhaltigeren Lebensstil verändern die Erwartung an Produkte und Services sowie deren Einsatz tiefgreifend. Begleitet wird diese Entwicklung von Technologiesprüngen und komplett neuen Geschäftsansätzen, die bis vor Kurzem undenkbar erschienen. Die technologischen Entwicklungen vollziehen sich mittlerweile binnen weniger Jahre.
Ein Beispiel dafür ist die Steuerung von Haustechnik über Smartphone-Apps. Innerhalb von fünf Jahren haben sich die Apps von einem netten Gimmick zur verbreiteten Alltagstechnik entwickelt. Auch wenn in der Bautechnik mit langlebigen Gütern höhere Hürden bei der Marktdurchdringung vorherrschen, ergeben sich für etablierte wie neue Anbieter zusätzliche Chancen, den Markt aktiv mitzugestalten. Zugleich ist das Risiko deutlich gestiegen, als etabliertes Unternehmen rapide an Relevanz zu verlieren. Denn neue bisher marktfremde Akteure und Wettbewerber treten entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf den Plan und brechen etablierte Strukturen auf.
Neu denken statt anpassen
Das allein sollte traditionelle Marktplayer aufrütteln, überfällige Veränderungen einzuleiten. Umdenken ist gefragt.
- Weg vom Silodenken hin zu mehr transdisziplinärer Zusammenarbeit. Es gilt, sich auch branchenfremden Kooperationen etwa mit Digitalunternehmen zu öffnen.
- Weg von der Produktentwicklung im stillen Kämmerlein hin zum gezielt kundenorientierten Prozess. Es ist wichtiger denn je, den Kunden bereits sehr früh als Feedbackgeber in die Entwicklung einzubinden.
Es gilt also ganz allgemein über neue Produkte und Services nachzudenken, die für Kunden und das Unternehmen gleichermaßen wertschöpfend sind. Mit echten Innovationen lassen sich zum einen unmittelbare monetäre Werte heben: Kunden sind bereit, mehr zu zahlen, wenn sie den direkten Nutzen eines Produktes für sich erkennen. Zum anderen schaffen Produkte und Geschäftsmodelle, die positive Auswirkungen auf Mensch und Umwelt bieten, einen Marken-Mehrwert. Der Stellenwert unternehmerischer Verantwortung hat für die Relevanz der Marke in einer global vernetzten Gesellschaft, in der mit Blogs und Social Networks Fehlverhalten schnell enttarnt und diskreditiert wird, deutlich zugenommen.
Aber wie vorgehen? Die Digitalisierung und die wachsende Bedeutung von ökologisch nachhaltigem Handeln eröffnen der Industrie gleich mehrere große Handlungsfelder für Veränderungsprozesse.
Energiegewinnende, mehrfunktionale Glasbauteile
Der Umbau zu einer regenerativen und dezentraleren Energieversorgung treibt das Thema „energieerzeugendes Gebäude“ weiter voran. Gefragt sind Lösungen, die nicht nur das Gebäude komplett mit Wärme, Kühlung und Strom versorgen, sondern möglichst auch gleich den Elektrofuhrpark nebenan in der Garage. Damit werden alle Flächen eines Gebäudes – Fassade, Tür, Dach, Fenster – zu potenziellen Nutzflächen der Energiegewinnung.
Können Bauteile nicht selbst Energie erzeugen, werden sie künftig mit ressourcenschonenden Zusatzfunktionen (Energie speichern, beschatten, selbstreinigen) ausgestattet sein. Seien es PV-Dünnschichtmodule mit effizienten Solarzellen, neuen Transparenzgraden und Modulgrößen, flexible PV-Folien aus organischen Materialien oder auch andere Ansätze wie Phasenwechselmaterial oder elektrochromes Glas. Diese Technologien schaffen die Voraussetzungen, Klimaschutz mit ästhetisch attraktiven Fassadenelementen zu verbinden, die auch Architekten und Endkunden noch eine hohe Gestaltungsfreiheit bieten.
Darüber hinaus ermöglichen zukunftsträchtige Technologien wie die flexible organische Leuchtdiode, Glas- und Fassadenherstellern zahlreiche neue Anwendungsfelder bei großflächigen digitalen Anzeigenfeldern auf Fassaden, Wegen oder allen anderen erdenklichen Elementen im urbanen Raum. Hier ergeben sich für Glashersteller sogar völlig neue Geschäftsansätze und Services als Plattformanbieter.
Natürliches und gesundes Wohnen
Der Trend zu ökologischer Nachhaltigkeit spiegelt sich im steigenden Wunsch nach natürlichen Materialien und dem Anspruch, gesund zu wohnen wider. Im Fassadenbereich sind dabei natürliche Dämmmaterialien besonders relevant. Die Palette wird immer breiter. Sie reicht von Holzfaser und Zellulose über Flachs, Hanf, Seegras und Jute (Verwertung von Kaffee und Kakao Säcken) bis zu Blähton oder Perliten. Insbesondere der Mix der natürlichen Materialien steigert das Potenzial, marktrelevante Alternativen zu Dämmprodukten aus fossilen Rohstoffen anzubieten.
Im urbanen Raum sind auch begrünte Dächer und Fassaden ein Trend, dessen mehrschichtiger Benefit immer breiter anerkannt wird. Bepflanzte Dächer verbessern die Luft und bilden wertvolle Biotope. Darüber hinaus halten sie Niederschläge zurück, was sich insbesondere bei größeren Flächen auf gewerblichen Gebäuden positiv auswirkt. Für das Gebäude selbst gleichen begrünte Flächen darüber hinaus Temperaturschwankungen aus und verlängern die Lebensdauer des Daches.
Bei technischen Materialien steigt die Bedeutung der Materialgesundheit. Hier sehen sich Produzenten vermehrt mit der Forderung von Großkunden konfrontiert, als Teil der gesamten Wertschöpfungskette mit Lieferantenerklärungen „eingebaute Nachhaltigkeit“ nachzuweisen. Oft wissen die Hersteller nicht, welche Stoffe ihre Produkte enthalten, sodass eine Betrachtung über die gesamte Lieferkette sinnvoll ist.
Hinzu kommt: Für den Endnutzer wird es immer wichtiger zu sehen, ob ein Stoff gesundheitskritisch ist, er zum Beispiel ausdünstende Lösungsmittel enthält. Erste sensorgesteuerte Melder kommen bereits auf den Markt, mit denen Bewohner oder Arbeitnehmer die Raumluftqualität permanent messen und Veränderungen feststellen können. Inhaltsstoffe spielen schließlich auch bei der späteren Wiederverwertung eine wichtige Rolle (siehe Infobox auf Seite 27).
Neue digitale Geschäftsmodelle
Mit der Wirtschaft 4.0 müssen Unternehmen lernen, über ihre Wertschöpfung bzw. ihr bisheriges Geschäftsmodell hinaus zu denken. Das fängt bei Rohstoffen und Materialien an, geht über das Produkt, das ausgestattet mit Sensoren mit anderen Geräten kommunizieren kann, bis hin zum Marketing-, Vertriebs- und Logistik-Prozess. Die Digitalisierung führt dazu, dass immer mehr Unternehmen ohne Mittelsmann arbeiten und sich das Geschäftsmodell auf diese Weise immer mehr Richtung Endkunde verschiebt. Firmen müssen sich Gedanken machen, zum Beispiel e-Shops aufsetzen und ihr Kerngeschäft auch mit individuellen Planungs- und anderen Beratungsleistungen kombinieren.
Jeder Geschäftsprozess lässt sich automatisieren, wenn er erst einmal digital vorliegt. Start-ups wie Vitraum und Ventoro oder Thermondo im Heiztechnikbereich machen das vor. Sie bieten dem Kunden ein Rundum-Sorglos-Paket in Sachen Service. Sie sind Berater, (markenübergreifender) Planer und Monteur zugleich und helfen am Ende auch noch bei der Finanzierung. Die Möglichkeiten, die das Internet der Dinge für die Fernwartung bringt, lassen noch mehr Ideen für einen Komplettservice gerade für die Gebäudetechnik entstehen.
Für den Wandel gibt es keine Blaupause
Egal für welche Technologie sich ein Hersteller entscheidet – für die spätere Akzeptanz am Markt sind stets zwei Dinge entscheidend. Erstens: Er darf seine Produkte nicht als losgelöste Einzelkomponenten im Gebäude betrachten, er muss gesamtsystemische Leistungen anbieten. Es gilt, sich auch branchenfremden Kooperationen vor allem mit Digitalunternehmen zu öffnen. Zweitens: Der Zusatznutzen muss für den Endkunden sofort erkennbar sein, das Produkt oder der Service für ihn einen Komfortgewinn darstellen. Hier ist wichtiger denn je, von Beginn der Entwicklungsphase an die Kundenbrille aufzusetzen und sich die Meinung, Bedürfnisse und Motivation des Abnehmers anzuhören. Ganz wichtig: Die Hersteller brauchen mehr Mut, etwas ausprobieren. Auch Fehler sind kostbar. Sie treiben das Lernen voran.—
Denken in echten Kreisläufen
Bei der Gebäudesanierung und Rückbau fallen besonders große Mengen an Materialen an. Bislang sind die Produkte nicht so designt, dass das Maximum an Material nach dem Gebrauch wieder aus ihnen herausgeholt wird. Auch die aktuelle, eher imageschädigende Diskussion über die Entsorgung von Dämmstoffen zeigt, dass es immer wichtiger wird, den Anteil verwertbarer Baustoffe weiter zu erhöhen.
Produkte für einen konsequenten Material-Kreislauf zu entwickeln setzt voraus, sie von vornherein in modularer Bauweise zu konzipieren. Zu den Modulen im Baukasten zählen dabei sowohl die Materialien als auch die Funktionskomponenten. Das ermöglicht, bei der Produktentwicklung die Verwertungsmöglichkeit nach der Erstnutzung konsequent mitzudenken und die Materialien später sortenrein zu trennen.
Positiver Nebeneffekt: Die Zahl der Inhaltsstoffe sinkt infolge dieser Überlegung in der Regel deutlich, der Produktionsprozess wird dadurch einfacher und die Produktion insgesamt günstiger. Am Ende steht dennoch ein Produkt gleicher Qualität.
Mit einem modularen Auf- und Abbau eines Produktes lassen sich darüber hinaus ganz neue Geschäftsmodelle realisieren, die den Kunden nicht mehr nur zum Eigentümer, sondern zum Nutzer eines Produktes machen. Nach der ersten Nutzungsphase werden einzelne (Verschleiß-) Module durch den Hersteller ausgetauscht. Die aussortierten Komponenten lassen sich als sortenreine Materialen direkt wieder verarbeiten oder als Rohstoff verkaufen. In beiden Fällen ergibt sich für Hersteller eine Produktkalkulation nach dem Motto „Qualität, die sich rechnet.“
Die Autoren
Katja Korehnke, Geschäftsführerin von Korehnke Kommunikation GmbH, einer Strategie- und Kommunikationsberatung für den grünen Bereich.
Dieter Bauer, Leiter von Steinbeis Ressourcenmanagement und Kooperationspartner von Korehnke Kommunikation.