Glaswelt – Sehr geehrter Herr Schlitzberger, warum wird für die Fenster und Fassadenbranche der sommerliche Wärmeschutz immer wichtiger?
Stephan Schlitzberger – Aktuelle Klimaszenarien sagen für die nächsten 30 Jahre deutlich mehr Sommertage mit gesteigerten Hochtemperaturlagen voraus. Ja nach Standort (z.B. innerstädtisches Klima) kann sich dieser Trend aufgrund mikroklimatischer Einflüsse noch verstärken. Allein dies deutet darauf hin, dass zukünftig ein erhöhter Planungsaufwand erforderlich sein wird, um behagliche Verhältnisse in Gebäuden zu gewährleisten. Darüber hinaus ist aus architektonischer Sicht ein Trend zu immer größeren Verglasungsanteilen in der Fassade zu verzeichnen. Insbesondere wenn der Anteil transparenter Bauteile in der Gebäudehülle größer wird – auch vor dem Hintergrund der Erhöhung solarer Wärmegewinne in der Heizzeit – gilt es, planerisch dafür Sorge zu tragen, dass ein geeignetes Sonnenschutzsystem vorgesehen wird.
GLASWELT – Die geltende „DIN 4108-2, Teil 2 – Mindestanforderungen an den Wärmeschutz“ wird aktuell überarbeitet. Warum?
Schlitzberger – Dafür gibt es mehrere Gründe: Die bestehende Fassung der DIN 4108, Teil 2 ist zwar aus dem Jahr 2003, die Struktur und die Anforderungsformulierung selbst gehen aber in den Ursprüngen deutlich weiter zurück. Grundsätzlich kann derzeit und wird auch in Zukunft der Nachweis zum sommerlichen Wärmeschutz entweder durch das Sonneneintragskennwerte-Verfahren oder durch dynamische Simulationsrechnungen erbracht. Für die letztgenannte Möglichkeit der Nachweisführung kommen sogenannte Testreferenzjahre (Test-Reference-Years = TRYs) zur Anwendung, die vom Deutschen Wetterdienst (DWD) im Frühjahr 2011 in einer neuen Fassung veröffentlicht wurden. Diese tragen den veränderten Klimarandbedingungen Rechnung.
Ein wesentliches Ziel im Rahmen der Fortschreibung der DIN 4108, Teil 2 ist die Überarbeitung des Sonneneintragskennwerte-Verfahrens. Die Maßgabe ist, durch dieses vereinfachte Verfahren (im Vergleich zu jeweils entsprechenden Simulationsrechnungen) unter Verwendung der neuen TRYs „auf der sicheren Seite“ bei der Einschätzung der thermischen Verhältnisse zu liegen. Die gültige Fassung des Sonneneintragskennwerte-Verfahrens führt gerade für hohe Fensterflächenanteile zu Fehlbewertungen im Vergleich zu Simulationsrechnungen. Dies kann bei alleiniger Anwendung als Folge zu unzumutbaren Temperaturen führen, obwohl die normativen Anforderungen eingehalten sind.
Neben dieser Fehlbewertung großer Fensterflächenanteile bewertet die derzeitige Fassung der Norm den Einfluss der Nachtlüftung in Verbindung mit der Bauart (leichte, mittlere oder schwere Bauweise) teilweise unzutreffend.
Weiter unterscheidet die aktuelle Fassung der Norm im vereinfachten Verfahren nicht zwischen Wohn- und Nichtwohngebäuden und gibt für Simulationsrechnungen bei Wohnnutzung nur unzureichende Vorgaben in Bezug auf Berechnungsrandbedingungen.
GLASWELT – Was versprechen sich die Verantwortlichen von der Überarbeitung der DIN 4108; gibt es gravierende Änderungen?
Schlitzberger – Die Entwurfsfassung der neuen DIN 4108-2 sollte in Kürze veröffentlicht werden. Die Novellierung wird im Wesentlichen die zuvor beschriebenen Fehlbewertungen von Einzeleinflüssen im Sonneneintragskennwerte-Verfahren korrigieren. Im Bereich der Nachtlüftung wird künftig unterschieden zwischen „erhöhter“ und „hoher“ Nachtlüftung. Dadurch wird zum einen das Potenzial dieser passiven Kühlmöglichkeit gezeigt. Zum anderen wird der Anreiz gegeben, planerisch derartige Nachtlüftungskonzepte einzubeziehen und so den Einsatz energieintensiver anlagentechnischer Kühlmaßnahmen zu vermeiden.
Aus dem gleichen Grund wird die künftige Norm passive Kühlung in der Nachweisführung berücksichtigen. Insbesondere Anwendungen bei denen zur Raumkühlung Systeme eingesetzt werden, bei denen ausschließlich Energie zur Förderung des Kühlmediums erforderlich ist. Dies sind i.d.R. thermisch aktivierte Bauteile mit Nutzung eines Sohlplattenkühlers oder Erdwärmetauschers.
GLASWELT – Was ändert sich in der Praxis und welche Auswirkungen hat die Novellierung für den Verarbeiter und für den Planer?
Schlitzberger – Verarbeiter und Planer, die von der Novellierung der Anforderungen baupraktisch unmittelbar betroffen sind, werden in der neuen DIN 4108-2 bereits bekannte Nachweisstrukturen wiederfinden. Die Neufassung der Norm wird durch das überarbeitete Sonneneintragskennwerte-Verfahren eine bessere Planungsgrundlage für den sommerlichen Wärmeschutz insbesondere für frühe Planungsphasen bieten und so für mehr Planungssicherheit sorgen. Über die Anwendungsgrenzen des vereinfachten Verfahrens hinaus bleibt weiterhin die Möglichkeit erhalten, durch Simulationsrechnungen planerische Konzepte zu entwickeln und abzubilden, die bauliche Lösungen ermöglichen, welche nach Sonneneintragskennwerte-Verfahren als „nicht baubar“ eingestuft werden. —