Glaswelt – Europaweit werden zunehmend Sicherheitsgläser bei Fassaden eingesetzt, warum ist das so?
Hannes Spiß – Die Nachfrage und die Anwendung von Sicherheitsgläsern ist aus mehreren Gründen gewachsen. Zudem sind in den vergangenen Jahren auch die normativen Anforderungen gestiegen. Gerade großformatige Scheiben erfordern sehr oft die Verwendung von Sicherheitsglas, um im Falle des Glasbruchs das potenzielle Verletzungsrisiko zu mindern. Bei großen Gläsern kann es zudem eine statische Notwendigkeit sein, diese aus Verbundsicherheitsglas mit einer höheren Steifigkeit zu fertigen. Weiter gibt es den Trend, thermisch vorgespannte Gläser (ESG/TVG) durch Verbundsicherheitsglas (VSG) aus Float zu ersetzen. Damit lassen sich lokale Verwerfungen ausschließen, sogenannte „Roller Waves“, die bei vorgespannten Gläsern auftreten können.
Glaswelt – Welche Glasqualitäten werden bei vorgespannten Gläsern gefordert?
Spiß – Die Erwartungen an die optisch, visuelle Qualität ist in den letzten Jahren bei allen Glasarten stark gestiegen. Die Problematik von „Roller Waves“ lässt durch verbesserte Ofentechnik in letzter Zeit nach. Was allerdings mehr und in den Fokus von Bauherren und ausführenden Firmen tritt sind Anisotropien. Das sind Muster in thermisch vorgespannten Gläsern, die insbesondere bei polarisiertem Licht, also an klaren Tagen mit viel Sonne, zu sehen sind. Auch hier ist es heute durch optimierte Fertigungsanlagen und -abläufe möglich, ESG quasi anisotropiefrei zu fertigen.
Glaswelt – Treffen diese Anforderungen auch auf Fenster für den Wohnbau zu?
Spiß – Selbstverständlich. Durch das gestiegene Qualitätsbewusstsein halten diese Anforderungen zunehmend auch im privaten Wohnungsbau Einzug. Werden dort großformatige Scheiben gefordert bzw. verbaut, werden diese häufig aus thermisch vorgespannten Gläsern gefertigt, um die statischen Anforderungen zu erfüllen. Damit erhöht sich jedoch auch das Risiko der genannten optischen Beeinträchtigungen.
Glaswelt – Wenn wir von großformatigen Gläsern sprechen, welche weiteren Bauelemente sind von Anisotropien noch betroffen?
Spiß – Im Wohnbau betrifft dies beispielsweise Gläser für großformatige (Wohnzimmer-)Fenster und insbesondere auch für Schiebetüren zu Balkonen oder Terrassen. Diese Scheiben sind häufig aus ESG und größer und dicker im Aufbau als Standard-Fensterglas.
Glaswelt – Dann sind also dicke Gläser eher betroffen?
Spiß – Genau. Anisotropien und deren Intensität stehen im direkten Zusammenhang mit der Glasdicke. Je dicker das ESG, desto höher die Gefahr von sichtbaren Anisotropien. Dies wiederum legt nahe, dass kleinformatige Fenster mit geringen Glasdicken weniger betroffen sind.
Glaswelt – Wie lassen sich solche Anisotropien vermeiden?
Spiß – Anisotropien können durch eine optimierte Maschinensteuerung und mithilfe moderner Produktionstechnik so gering gehalten werden, dass sie visuell nicht wahrnehmbar sind. Heute gibt es Messtechniken und Messverfahren (Anm. d. Redaktion: Siehe Seite 54+55), um Anisotropien während der Produktion zu ermitteln. Anhand dieser Ergebnisse lässt sich dann die Ofensteuerung optimieren und die damit verbundene Produktqualität verbessern.
Glaswelt – Was sagen die Regelwerke zu Anisotropien?
Spiß – Die aktuelle Normensituation sagt, dass Anisotropien fertigungsbedingt sind. Dies entspricht allerdings nur bedingt dem heutigen Stand der Technik. Speziell in Bezug auf Anisotropien gibt es keine europäischen, normativen Regelwerke. Allerdings gibt es gegenwärtig mehrere Arbeitsgruppen mit Mitgliedern aus der Glasindustrie sowie aus der Wissenschaft. Die USA haben eine normative Arbeitsgruppe einberufen und man darf einen Normenentwurf bis 2020 erwarten. Unabhängig davon gibt es schon einige Ausschreibungstexte von internationalen Architekten und Ingenieuren, die höhere Anforderungen an anisotropiefreies Glas stellen.
Glaswelt – Was raten Sie Fenster- und Fassadenbauern im Beratungsgespräch mit den Kunden, welche Angebote sollten sie machen?
Spiß – Anisotropien werden gerade im Objektbau häufig nicht mehr von den Bauherren toleriert und bemängelt. Dem werden sich die Verarbeiter stellen müssen. Zudem werden sich die Anforderung an Glas für Fassaden und Fenster weiter erhöhen. Ich empfehle daher jedem Fenster- und Fassadenbauer sich mit solchen Zukunftsthemen, und dazu zählen auch Anisotropien, intensiv zu befassen.
Das Interview führte Matthias Rehberger