Das Streben nach transparenten Gebäudehüllen führt zur Entwicklung von immer weiter verfeinerten Tragsystemen, die sich durch ihre eleganten Details und die konsequente Umsetzung der Prinzipien des Leichtbaus auszeichnen. Dieser Beitrag beschreibt zwei ausgewählte Projekte, die verdeutlichen, mit welch hoher Transparenz und geometrischen Komplexität moderne Seilfassaden arbeiten können. Beim neuen Hauptquartier der ThyssenKrupp AG in Essen war an die Planer die Forderung gestellt, eine absolut transparente Fassade von 26 x 28 m Spannweite zu schaffen. Und das Design des Enzo Ferrari Museums in Italien verlangte nach einer minimierten Seilstruktur, die nicht nur äußerst transparent, sondern auch geometrisch hochkomplex sein sollte.
Das ThyssenKrupp Hauptquartier
Das neue ThyssenKrupp Quartier in Essen wurde von JSWD-Architekten, Köln, und Chaix & Morel, Paris, auf einem 20 ha großen Gebiet geplant. Die Gebäude bieten Platz für etwa 2500 Mitarbeiter. Herzstück des Areals ist das Gebäude Q1, das ThyssenKrupp Headquarter. Zwei großflächige Seilfassaden, die sogenannten Landschaftsfenster, sind das bestimmende optische Element des Gebäudes. Die großzügigen Abmessungen der Seilfassaden – je 28 m in der Höhe und 26 m in der Breite – verleihen dem Bauwerk eine hohe Transparenz und große Leichtigkeit. Die leicht ins Gebäudeinnere zurückgesetzten Landschaftsfenster gewähren in Richtung der Nord-Süd-Achse eine fast ungestörte Durchsicht durch den 50 m hohen Kubus des Gebäudes.
Eine filigrane, hochfest zweiaxial vorgespannte Seilkonstruktion trägt 2,15 x 3,60 m große Glasscheiben. Die minimierten Klemmhalter befinden sich in den Längsfugen; sie tragen wesentlich zum sehr eleganten, zurückgenommenen Erscheinungsbild der Fassaden und zu ihrer Transparenz bei. Die filigrane Seilkonstruktion lässt kaum vermuten, dass es sich um eine Sonderkonstruktion mit extremen Belastungen für das Haupttragwerk handelt. Die Vorspannkräfte in den Seilen sind beträchtlich: durch die Horizontalseile werden in jede Geschossdecke 340 kN eingeleitet. Am Kopf- und Fußpunkt der Vertikalseilpaare werden je Anbindungspunkt 300 kN von der Tragstruktur des Gebäudes aufgenommen. Aufgrund des hohen Gewichts der exzentrisch angeschlossenen Isolierglasscheiben (jeweils mehr als 500 kg schwer) werden die vertikalen Stahlseilpaare zum kombinierten Abtrag der aus dem Eigengewicht resultierenden Lasten eingesetzt. Windlasten hingegen werden gemeinsam über die vertikalen und die horizontalen Seile abgetragen. Die Vorspannkraft der Horizontal- und Vertikalseile wurde so gewählt, dass die horizontale Verformung der Landschaftsfenster unter voller Windlast in Feldmitte auf etwa 60 cm beschränkt bleibt.
Wie die Landschaftsfenster wurde auch das Dach über dem Atrium als vorgespannte Seilkonstruktion konzipiert. Dies erlaubt einen weitgehenden Verzicht auf Kunstlicht im Bereich des Atriums ebenso wie einen freien Ausblick auf den Himmel. Das Atriumdach hat einen quadratischen Grundriss mit einer Kantenlänge von etwa 20 m. Das Tragsystem des Dachs ist eine filigrane, parabolisch seilunterspannte Glaskonstruktion. Die ebenen Scheiben aus 2-fach-Isolierglas folgen der geometrischen Form einer Translationsschale und haben Abmessungen von jeweils 2 x 2 m. Diese Scheibengröße trägt ebenso wie die minimierten Profile der Glaslager zum Erreichen höchster Transparenz bei.
Das neue Ferrari Museum
Das Enzo Ferrari Museum in Modena wurde von den Architekten von Future Systems, London, entworfen. Werner Sobek übernahm die Tragwerksplanung für die Seilfassade sowie für das Aluminiumdach.
Die doppelt gekrümmte Fassade, deren Höhe von 6 bis 11 m variiert, ist durch zwei sich schneidende, konisch geformte Oberflächen definiert, sodass ebene Isolierglasscheiben mit unterschiedlichen Abmessungen und Schnittwinkel entstehen. Die Fassadenverglasung wird exzentrisch auf einer vertikal vorgespannten Seilunterkonstruktion gelagert, die aus 32 mm starken Edelstahlseilen besteht. Um die Gesamtverformung der Fassade und mögliche Verwindungen der Isolierglasscheiben zu minimieren, wurde die Vorspannkraft individuell für jede einzelne Seilposition definiert; sie variiert so zwischen 80 und 330 kN.
Die beim Ferrari-Museum verwendeten Seilklemmen und Glashalter wurden speziell für dieses Projekt entworfen; Ziel war es, den Materialeinsatz auf ein Minimum zu reduzieren und eine der Architektur angemessene Formensprache zu ermöglichen. Ein weiteres, wichtiges Element des Fassadendesigns ist der gekrümmte Sonnenschutz aus schwarz beschichtetem Aluminium, der den Wärmeeintrag in das Museumsgebäude reguliert.
Zusammenfassung
Die beiden im Artikel skizzierten, kürzlich fertig gestellten Seilfassaden demonstrieren eindrücklich, welchen großen Anteil die Tragwerksplanung (Engineering) bei der Gestaltung und Realisierung moderner Gebäudehüllen besitzt. Der Schlüssel zum Erreichen der angestrebten Transparenz und zur Realisierung der komplexen Geometrien ist die richtige Wahl eines geeigneten Tragsystems: Zugbeanspruchte Seiltragwerke sind besonders gut geeignet, die sichtbaren Elemente des Tragsystems in den Hintergrund zu stellen und die Transparenz der Gebäudehülle hervorzuheben. Eine präzise Detaillierung, die auf die individuellen Anforderungen des jeweiligen Entwurfs eingeht, ist wichtige Voraussetzung für ein stimmiges Erscheinungsbild und höchste Qualität in der Ausführung. –
Glass PerformAnce Days 2011
Auf den GPD (17. bis 20. Juni) im finnischen Tampere wird Lucio Blandini vom Ingenieurbüro Werner Sobek, Stuttgart, den Vortrag „Glass special structures - Recent projects, new challenges“ halten, auf dem dieser Beitrag, der zusammen mit Prof. Dr. Werner Sobek und Annette Krtscha entstanden ist, basiert. https://gpd.fi/