Glaswelt – Herr Cazes, werden die Glashersteller in der EU und in Deutschland auch in 2023 ihr Glas zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren können und ist darüber hinaus die Energieversorgung der Floatwerke gesichert?
Bertrand Cazes – Bei der objektiven Betrachtung der heutigen Situation sollte man die Herausforderungen nicht unterschätzen, aber auch keine voreiligen und düsteren Prognosen treffen.
In Bezug auf die Verfügbarkeit von Gas dürften der milde Herbst in Europa und die hohen Lagerbestände dazu beitragen haben, in diesem Winter Engpässen zu vermeiden. Es ist schwer vorauszusagen, wie sich die Lage in Herbst- und Wintermonaten 2023 entwickelt. In den kommenden Jahren wird die Situation zudem davon abhängen, ob die Energieeinsparungen in Gebäuden und Haushalten auf Dauer anhalten und ob Europa in der Lage ist, schnell neue Energiequellen zu erschließen.
Die volatilen Energiepreise sind zweifellos das, was sowohl den Glasherstellern als auch den nachgelagerten Verarbeitern derzeit die größten Sorgen bereitet. Im letzten Jahr waren die Gaspreise vier- bis fünfmal höher als zu „normalen“ Zeiten. Zudem sind die Strompreise in die Höhe geschnellt, und die Energiepreise schwanken kaum vorhersehbar, auch die CO2-Kosten bleiben konstant und die Produktionskosten steigen für alle Unternehmen des Glassektors an. Wir haben es mit einer Inflation zu tun, die sowohl die Nachfrage als auch die Wettbewerbsfähigkeit gefährden könnte. Hoffen wir, dass dieser Inflationskreislauf bald durchbrochen werden kann.
Glaswelt – Bereits am 14. September 2022 hat die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, bekräftigt, dass „Branchen wie die Glasindustrie gezielt unterstützt werden müssen“. Was bedeutet das in der Praxis? Leistet die EU hier Unterstützung?
Cazes – Die EU hat Mechanismen zur Unterstützung der unter der Energiekrise leidenden Sektoren eingerichtet, einschließlich der Glasindustrie. Mit dem von der EU eingeführten Solidaritätsbeitrag werden neue Mittel bereitgestellt, und die Europäische Kommission erlaubt es den Mitgliedstaaten nun, Betriebe, die aufgrund der hohen Energiepreise in Schwierigkeiten geraten sind, größere finanzielle Unterstützung zu gewähren.
Dennoch fordert Glass for Europe die Kommission weiterhin auf, die Äußerungen von Ursula von der Leyen zu konkretisieren. Im Moment wird Unterstützung gewährt, wenn ein Unternehmen oder ein Standort in Schwierigkeiten ist, jedoch stehen strukturelle Unterstützung noch aus, ebenso gezielte Maßnahmen. Eine Reform des Strommarktes ist zum Beispiel angekündigt, muss aber erst noch konzipiert werden. Der Glassektor fordert zudem einen Ausgleich für seine hohen Stromkosten, die durch das EU-EHS verursacht werden. Während andere Branchen von dieser Unterstützung profitieren, ist dies bei den Glasherstellern nicht der Fall. Dies wäre eine gute Möglichkeit, die Unterstützung gezielt auch auf die Glashersteller auszurichten.
Glaswelt – Und welche konkreten Entlastungen sind für Unternehmen in der Wertschöpfungskette der Glasindustrie zu erwarten?
Cazes – Abgesehen von ETS-bezogenen Fragen macht die EU innerhalb eines Sektors kaum Unterschiede, daher sind die Unterstützungsmechanismen für Flachglashersteller und für Glasverarbeiter in etwa gleich. Der einzige Unterschied liegt in der Regel in der Höhe der maximalen Beihilfe. Dies ist im Detail aber von Land zu Land verschieden. In Deutschland zum Beispiel können Verarbeiter im Falle von Schwierigkeiten von den Krisenhilfsmaßnahmen profitieren. Von besonderer Bedeutung für die Flachglasverarbeiter wird die europäische Reform des Elektrizitätsmarktes sein, da ihre Prozesse meist mit Strom betrieben werden (z. B. ESG-Öfen). Glass for Europe wird solche Möglichkeiten genau beobachten.
Glaswelt – Die aktuelle Lage birgt das Risiko, dass notwendige Investitionen von Glasbetriebe verschoben oder ganz gestrichen werden. Sehen Sie hier Chancen für eine Unterstützung durch die EU, und wenn ja, wie könnten diese aussehen?
Cazes – Werden Investitionen in die Dekarbonisierung von Industrieprozessen gemacht, stellt die Europäische Union finanzielle Unterstützung bereit. Angesichts der Energiekrise überprüft die EU ihre bestehenden Programme und hat kürzlich ein neues Programm zur nationalen Unterstützung vorgestellt.
Glaswelt – Glauben Sie, dass die Elektrifizierung der Glasindustrie – also weg vom Gas – ein möglicher Schritt ist, um diese besser gegen die Krise zu wappnen?
Cazes – Erstens: Es muss technisch möglich sein. Und zweitens „ja und nein“. Wenn wir einen raschen Anstieg der Ökostrom-Produktion erleben, könnte damit langfristig die Sorge um die Stromversorgung geringer sein als die um Erdgas. Aber das ist aktuell nicht der Fall. Sehen Sie sich nur die Bedenken Frankreichs aufgrund der Stromknappheit in diesem Winter an. Was die Kosten anbelangt, so ist Strom sogar noch teurer als Gas, so dass Strom kein Schutz vor hohen Produktionskosten bedeutet, ganz im Gegenteil.
Um die Branche klima- und krisensicherer zu machen, braucht es nicht nur Strom, sondern auch die Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit vieler verschiedener emissionsfreier Energiequellen, dazu zählen u. a. grüner Wasserstoff, Biogas etc.
Glaswelt – Aufgrund der hohen Energiepreise werden die Glasimporte aus anderen Ländern außerhalb der EU wohl zunehmen, sehen Sie hier eine Gefahr für die europäischen (und deutschen) Glaslieferanten und Glasverarbeiter?
Cazes – Europa ist eine offene Wirtschaft, so dass unsere Handelspartner in die Europäische Union exportieren können, solange es kein Preisdumping oder Subventionspraktiken gibt. Höhere Produktionskosten in Europa und niedrigere Transportkosten auf dem Seeweg weltweit schaffen die Voraussetzungen für größere Importströme. Wir beobachten bereits einen solchen Anstieg bei einigen spezifischen Produkttypen. Wir müssen dies genau im Auge behalten, da es für die Branche in Europa sehr nachteilig sein kann, sei es für Glas-Hersteller oder von Glasverarbeiteten Betrieben.
Glaswelt – Welche Maßnahmen wird Glass for Europe ergreifen, um unsere Branche in 2023 zu unterstützen?
Cazes – Glass for Europe wird weiterhin seine zentrale Rolle wahrnehmen, indem es die EU-Behörden auf die Risiken und Folgen der Energiekrise hinweist. Dies ist wichtig, um den zuständigen Stellen bei der Ausarbeitung von Maßnahmen zu helfen, die den Glas-Sektor entlasten und ihm bei der Umgestaltung und Anpassung an die neuen Gegebenheiten helfen. Gemeinsam mit unseren nationalen Partnern werden wir uns für eine flexible und rasche Umsetzung von finanziellen Unterstützungsprogrammen einsetzen, damit die Hilfe bei Betrieben ankommt, bevor es zu spät ist. Was die Interessenvertretung betrifft, so werden wir zwei Ziele verfolgen. Erstens, die Förderung des Bauwesens und der Gebäude-Sanierung: Dies ist unerlässlich, um einen Nachfragestau aufgrund der Inflation entgegenzuwirken und die Aktivitäten im Glassektor aufrecht zu erhalten. Zweitens werden wir uns für die Reform des Elektrizitätsmarktes einsetzen, um die Kosten für alle Player in unserer Branche zu senken.
Das Interview führte Matthias Rehberger
Glass for Europe
Der europäische Lobby-Verband „Glass for Europe“ vertritt in Brüssel die Interessen der europäischen Glasindustrie. Aktuell ist Philippe Bastien von AGC der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Direktoren von Glass for Europe.