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Bruchverhalten von Glas (Folge 2)

Wann ist eine Glasscheibe auch wirklich eine Scheibe?

Im allgemeinen Sprachgebrauch verwenden wir das Wort Glasscheibe – das gilt auch für Glasverarbeiter und Fachleute. Untersucht man diese Begriffe aber näher, gibt es doch signifikante Unterschiede zwischen den Begriffen Glasscheibe und Glasplatte.

Aus statischer Sicht werden Glasscheiben mit einer zur Fläche rechtwinkligen Belastung als Platten und nicht als Scheiben bezeichnet. Unter einer Scheibe versteht man hingegen, eine in Scheibenrichtung beanspruchte Konstruktion, wie sie beispielsweise zu Aussteifungszwecken genutzt werden kann. Aus statischer Sicht kommen Scheiben im Glasbau jedoch nur sehr selten vor, da meist auch Wind- oder Anprall­lasten durch Personen über die Plattenwirkung abgetragen werden müssen. Obwohl sich für „Glasplatte“ im Glasbau die Bezeichnung „Glasscheibe“­ ­etabliert hat, wird in diesem Artikel der Begriff Platte verwendet, um auf das spezifische Tragverhalten hinzuweisen.

Glasplatten werden zwei-, drei- oder vierseitig Linien-gelagert montiert. Darüber hinaus lassen sie sich punktuell lagern, wobei die anspruchvollste­ Lagerungsart die einseitige und punktuelle ­Lagerung von Glastüren ist. Gleichwohl das Belastungsniveau in Ganzglastüren, den ordnungsgemäßen Gebrauch vorausgesetzt, verhältnismäßig gering ist. Die verschiedenen Lagerungsarten haben entscheidenden Einfluss auf das Last-Verformungsverhalten bzw. auf die Steifigkeit der Platten. Demnach entscheiden nicht nur die Glasdicke und das Lastniveau sondern auch die Lagerungsart über die Steifigkeit und das Spannungsniveau in einer Glasplatte.

Die zum Bruch führenden Biegezugspannungen (siehe GLASWELT, 05/2008, S. 16+17) treten in Abhängigkeit von der Lagerungsart und darüber hinaus in Abhängigkeit vom Lastniveau in unterschiedlichen Bereichen der Platten auf.

Umlaufend Linien-gelagerte Platten werden in der Belastungsrichtung elastisch gelagert. Diese­ weichen Auflager gewährleisten, neben der Dichtigkeit und dem Ausgleich kleinerer Unebenheiten, ein freies Verdrehen und Gleiten der Platten. Da die Unterkonstruktionen, wie z.B. Fensterflügel, ebenfalls elastische Systeme darstellen, ergeben sich in Abhängigkeit von der Steifigkeit dieser tragenden Konstruktionen zusätzliche Verformungen der Platten im Randbereich. Im weiteren Verlauf wird jedoch vereinfachend eine unverschiebbare Lagerung, d.h. eine extrem hohe Steifigkeit der Unterkonstruktion, vorausgesetzt.

So trägt eine vierseitig gelagerte Glasplatte

Glasplatten weisen im Verhältnis zu ihrer Dicke große Verformungen auf. Das Tragverhalten einer vierseitig gelagerten Platte verändert sich bei zunehmender Belastung derart, dass sich ein nichtlineares Last- Verformungsverhalten (geometrische Nichtlinearität) entwickelt. Überschreitet die Durchbiegung der Platte etwa die Platten­dicke, gleitet das Tragsystem von einem Biegesystem hin zu einem Membransystem. Die Biegespannungen werden mit fortschreitender Durchbiegung von den Membranspannungen überlagert. Die Steifigkeit der Platten nimmt dabei mit steigender Belastung zu. Bild 1 zeigt qualitativ den nichtlinearen Anstieg der aufnehmbaren Belastung zur Durchbiegung einer vierseitig gelagerten Platte. Der blaue Bereich stellt das linear-elastische Verformungsverhalten bzw. den unteren „Biegebereich“ dar. Der rote Abschnitt beschreibt die Erhöhung der Steifigkeit durch ansteigende Membrankräfte.

Am deutlichsten kann dieser Effekt bei quadratischen Platten beobachtet werden. Als ungünstigster Fall ist eine allseitig gelagerte Platte zu betrachten, welche z.B. mit Pressleisten fixiert wurde. Die Ränder dieser Platten bleiben frei verdrehbar, wobei die Ecken dazu tendieren von den Auflagern abzuheben. Durch die Pressleisten werden sie daran gehindert und erzeugen eine Art Einspannung der Plattenecke.

Bild. 2 rechts zeigt wie in der Fläche radial wirkende Membranzugkräfte (rot) einen am Rand ausgleichenden Druckring (blau bis grün) erzwingen. Das Tragsystem einer Glasplatte ähnelt bei zunehmender Verformung immer mehr einem Tennisschläger [Karl Schwalbenhofer].

Dieses, die Steifigkeit erhöhende Verhalten durch Membrankräfte von dünnen Platten unter Querkraftbelastung wird als Membraneffekt bezeichnet. Bild. 2 links zeigt wie dabei der Rand aufgrund der Druckbeanspruchung bzw. der Querdehnung eine Einschnürung erfährt.

Spannungswanderungen

In Bild 3 wird nun die Spannungsentwicklung auf der von der Belastung abgewandten Seite bzw. auf der Unterseite einer rechteckigen „Fensterscheibe“ für drei steigende Belastungsstufen (I < II < III) dargestellt. Die maximalen Zugspannungen (Rot) wandern bei steigender Belastung, also von links nach rechts gesehen, von der Mitte ausgehend in Richtung der Ecken aus.

Die durch die Farben dargestellten Spannungsgrößen, sind ausschließlich innerhalb einer Laststufe miteinander vergleichbar. Somit ist zwischen den Laststufen I, II und III, lediglich die größte Spannung und ihr Ort identifizierbar. (rot = Hauptzugspannung, blau = Hauptdruckspannung, etwa zwischen Grün und Gelb befindet sich der neutrale Spannungsbereich). Das gilt auch für die Darstellung der Oberseite der Platte (Bild 4).

Betrachtet man dort den Spannungsverlauf auf der Oberseite der Glasplatte etwa in der Plattenmitte, wird die Biegedruckspannung (Blau) von den Zugspannungen aus der Membrantragwirkung zunehmend kompensiert. Bei steigender Belastung konzentrieren sich die größten Hauptzugspannungen schließlich in den Eckbereichen auf der Oberseite der Glasplatte.

Für die Effektivität des Membraneffektes ist das Seitenverhältnis der Platte entscheidend. In Bild 5 ist das Seitenverhältnis a/b (b = längere Seite) und seine Auswirkung auf das Tragverhalten von vierseitig gelagerten Platten unter konstanter Last graphisch dargestellt. Eine Platte mit einem Seitenverhältnis von 0.5 erfährt bereits mehr als die doppelte Verformung (200%) einer quadratischen Platte (a/b = 1). Eine Platte mit einem Seitenverhältnis von 0.3 erleidet schließlich mehr als die dreifache Verformung einer quadratischen Platte mit gleich großer Flächenlast.

Ab etwa einem Seitenverhältnis von 0,3 entspricht das Tragverhalten der Platte im Zentrum annähernd dem einer zweiseitig gelagerten Platte. Der Membraneffekt und die Phänomene der Spannungswanderung kann man bei zweiseitig gelagerten Platten jedoch so nicht beobachten.

Im folgenden dritten Teil dieser GLASWELT-Serie werden das Tragverhalten und die Spannungsentwicklung von zweiseitig gelagerten Glasplatten dargestellt.—

Der Autor

Dr.-Ing. Hanno Sastré studierte in Wuppertal Architektur und ist gegenwärtig am ITE der TU Graz in Forschung und Lehre tätig.

Tel. +43 31 68 73 - 67 13; h@nnosastre.com

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