Transparenz und Verhüllung
In der jungen Bundesrepublik beginnt nach dem II. Weltkrieg eine 2. Gründerzeit, die ihre Kernzeit von 1960 – 1975 hat. Um die hohen Verluste an Wohn- und Arbeitsraum zu kompensieren, erfolgt u.a. ein Bauen nach dem Fließbandprinzip. Architektonische Qualität ist nicht vordringlich und ein Markt für die Wohnbedürfnisse der Bürger existiert kaum, da der Staat in paternalistischer Manier zuerst eine Grundversorgung für alle sicherstellen will.
Insbesondere im Schul-, Verwaltungs- und Bürobau wird klares Glas zum dominierenden Element, denn architektonische Transparenz wird gleichgesetzt mit Demokratie und Bürgernähe.
Der neue Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn entsteht im Zenit einer Epoche, in der die Transparenz zur Nacktheit verkommen ist. Die Einsehbarkeit macht den Menschen in transparenten Gebäuden zu Dauerstatisten. Mit dem gläsernen Haus entsteht der gläserne – und bezeichnenderweise nicht der transparente – Mensch. Nach dem Fall der Berliner Mauer beginnt die Umsetzung einer ‚Transparenz der Verhüllung‘, bei der gegossenes, bedrucktes oder gefärbtes Glas Gebäude ganz oder partiell verhüllt [5].
Ökologische Krise und Neuorientierung
Eine Angleichung an die Entwicklung der 1960er Jahre in den USA findet allerdings nicht statt. Denn der Euphorie der Nachkriegsjahre in Europa, die mit einer neuen Technikgläubigkeit und stetig steigendem Wohlstand einen Machbarkeitsrausch auslöst, folgt alsbald der Kater in Form der ersten Energiekrisen und des ersten Berichtes an den Club of Rome.
Seither prägen zwei unterschiedliche Richtungen das Bauen mit Glas: Die erste setzt auf eine moderne, technikorientierte Lösung ökologischer Probleme, während die zweite an alten, traditionellen Erfahrungen zur Lösung der Umwelt- und Ressourcenprobleme anknüpfen will.
Die industriell ausgerichteten Kreise orientieren sich am Hightech-Architekturstil und schaffen mit neuen Fassadenschichtungen aus Glas und dem Einsatz dynamischer Systeme zur natürlichen Belichtung und Belüftung eine ‚operative Transparenz‘. Die Glasfassaden erhalten zudem neue Funktionen wie den Wärme- und Schallschutz, die Stromerzeugung durch Photovoltaikelemente und Elemente zur Lichtlenkung.
Die Regelung dieser technischen Gebäudeausrüstung erfordert komplexe DV-Systeme. Letzte spektakuläre Neuerung ist die Glas-Doppel-Fassade (GDF) aus den 1990er Jahren. Diese nur noch mit Computersimulationen zu planenden und mit CNC-Technologie herzustellenden Gebäude müssen für angenehme Nutzerbedingungen sieben Tage 24 Stunden online überwacht werden und erreichen dieses Ziel trotzdem derzeit nicht.
Die eher unscheinbare Architektur alternativer Kreise leistet beachtliche Pionierarbeit bei der Wiederentdeckung alter und Entwicklung neuer Prinzipien des ökologischen Bauens. Eines ihrer wichtigsten Projekte ist die Nutzung der Sonnenenergie durch Solararchitektur. Doch auch u.a. das Trombe-System sowie die transparente Wärmedämmung (TWD) haben noch keine zufriedenstellenden Problemlösungen hinsichtlich des versperrten Ausblicks und einer zwingend notwendigen Verschattung während des Sommers.
Beide Richtungen stehen sich lange Zeit unversöhnlich gegenüber. Zumindest einige Vertreter des technischen Fortschritts in der Architektur haben im März 1996 mit der Berliner ‚Europäischen Charta für Solarenergie in Architektur und Stadtplanung‘ auf Initiative der READ- Gruppe (Renewable Energies in Architecture and Design) solares Bauen zur Grundidee ihrer Arbeit gemacht.
N. Forsters Commerzbank- Gebäude (Frankfurt, 1996) soll den Zielen der technologischen und ökologischen Bewegungen gerecht werden. Es entsteht in solarer Hightech-Bauweise mit einer Kastenfensterfassade (Energieeinsparung) und versetzt angeordneten Wintergärten (Naturverbundenheit).
Ein neuer Trend
Die schon erwähnte GDF gilt als die bautechnische Innovation des Jahres 1996. Sie entsteht als eine Neuentwicklung für den RWE-Turm in Essen (Ingenhoven, Overdiek, Kahlen & Partner). Die Fassade erhält – erstmalig weltweit – eine doppelschalige Verglasung mit einem Lüftungszwischenraum, die, von eigens entwickelten neuartigen ‚Fischmaul-Lufteinlässen‘ geregelt, eine natürliche Be- und Entlüftung der Büros ermöglichen soll. [7].
Ab der Jahrtausendwende verdichten sich jedoch die Hinweise, dass insbesondere GDF-Gebäude, nicht - wie vielfach propagiert – ohne technische Klimatisierung auskommen können. Da Forschungsprogramme keine Träger finden, müssen Architekten und Ingenieure, trotz massiven Einsatzes von iterativ entstandener EDV-Software, weiter experimentieren [8].
Während die Geschossweise oder -übergreifende Lüftung (noch) nicht funktioniert, macht ein neuer Trend Schule: Das moderne Kastenfenster. In Verbindung mit einer neuen Generation optimierter Gläser und den Verzicht auf eine Komplettverglasung wird es wieder zu einem Stilelement moderner Architektur – im Dienste der Nutzerzufriedenheit.
Noch kein gesicherter Ausführungsstand
Bauen mit Glas, so ist festzuhalten, hat noch keinen endgültig gesicherten Ausführungsstand erreicht. Generell bereitet der Einsatz von viel Glas - vor allem in Südrichtung – bis heute Probleme beim Klima im Innenraum. Dem ist entweder mit viel Technik (= hohe Betriebskosten) oder einem der örtlichen Situation angemessenen Einsatz von Glas, Speichermassen und Verschattung (= massivere Wirkung) zu begegnen.
Voll verglaste Gebäude entstehen nur noch für repräsentative Aufgaben, während sie überall dort auf dem Rückzug sind, wo der Nutzerkomfort aber auch die Gesamtkosten im Vordergrund stehen.
Die alte Lochfassade kommt in weiterentwickelten Varianten mit einer neuen Generation von Fensterrahmen und Hightechgläsern erneut zum Zug, wie auch einige Bauten in der Hamburger Hafencity erkennen lassen.
Architekturgeschichte sei die Geschichte des Fensters, hat Le Corbusier einmal gesagt. Und es sieht ganz so aus, als ob sich - nach einem ein halbes Säkulum währenden Ausflug zur Ganzglasfassade – daran vorerst nichts ändern wird. |
Literatur:
[1] Vgl.: Prösler, M.: Nachhaltig positiv, Deutsches IngenieurBlatt, 13. Jg. (09/2006), S. 17 – 22.
[2] Vgl.: Scheer, H.: Sonnenstrategie. Politik ohne Alternative, München: Piper Verlag, 1993.
[3] Vgl.: Wigginton, M.: Glas in der Architektur, Stuttgart: Deutsche Verlags- Anstalt, 1997.
[4] Vgl.: Behling, S.; Behling, S.: Glas – Konstruktion und Technologie in der Architektur, München: Prestel, 1999.
[5] Vgl.: Meyerhöfer, D. (Hrsg.): Konstruktion und Poesie, Hamburg: Junius Verlag, 2002.
[6] Vgl.: Baumgartner, J.: Geschichte des Glasbaus, Internet: http://www.baumgartner-pbl.de, unter Glas/ Historie/ Tabellen, Stand 11/2006.
[7] Vgl.:Nagel, A.: Gebäude mit zweiter Haut, VfA PROFIL, 11. Jg. (3/1998), S. 24 - 29 sowie Fröschl, C.: Höhenrausch und Höhenluft, db - deutsche bauzeitung, 131. Jg. (4/1997), S. 48 – 53.
[8] Vgl.: Eicke-Henning, W.: Im Schwitzkasten, db – deutsche bauzeitung, 138. Jg. (5/2004), S. 77 – 88
Autor
Jens Baumgartner, Jahrgang 1963, studierte Holz- & Bautechnik in Rosenheim, München und Buxtehude sowie Industrial Engineering beim REFA Bundesverband e.V. in Darmstadt. Seit 1995 eigenes Ingenieurbüro. Der Arbeitsschwerpunkt verlagerte sich in einer mehrjährigen Phase von den Ingenieurdienstleistungen zur Publizistik. Seit 2004 freier technischer Publizist. Die Spezialgebiete sind Holz- und Glasbau sowie Fabrikplanung und Instandhaltung.