GLASWELT – Worauf führen Sie die aktuelle kritische Situation an den Beschaffungs- und Logistikmärkten zurück?
Dr. Eckhard Keill – Die Corona-Krise sorgte für völlig unterschiedliche Branchenentwicklungen. Während z. B. der Maschinenbau und die Automobilindustrie in der Anfangsphase komplett abstürzten, boomten etwa alle baunahen Bereiche. Die stark steigende Nachfrage der „Gewinner-Branchen“ stieß auf ein Rohstoff- und Materialangebot, das während der Pandemie oft bewusst gedrosselt wurde. Der Engpass war also vorprogrammiert. Die logische Folge: kräftige Preiserhöhungen. Wir haben es also insgesamt mit einem sehr differenzierten Bild zu tun, das sich aber nach meiner Überzeugung im Zuge der generellen Wirtschaftsbelebung kurz- bzw. mittelfristig wieder normalisiert. Dazu bedarf es keiner staatlichen Eingriffe, sondern ausschließlich der selbstregulierenden Marktkräfte.
Marcus Sander – Das sehe ich genauso. Es ist im Kern eine klassische Angebots- und Nachfrage-Thematik, die gegenwärtig eine extreme Eskalation aufweist. Beispiele dafür sind Zink und Metalle. Dem Einbruch und der Kapazitätsdrosselung im Vorjahr folgte plötzlich wieder eine steile Gegenbewegung. Die Nachfrage verlief also V-förmig und wies zuletzt eine starke Dynamik auf. Das galt übrigens für alle Branchen und damit auch für Maschinenbau und Automotive. Im Zeitalter internationaler Lieferketten entstanden dadurch automatisch Engpässe. Aber das alles pendelt sich durch entsprechende Anpassungen auf der Angebotsseite wieder ein. Ich habe keine Zweifel daran, dass die Marktmechanismen auch diesmal funktionieren.
GLASWELT – Aktuell trifft es bei der Verknappung ein sehr breites Feld. Ist das eine Besonderheit, die der Corona-Situation geschuldet ist?
Dr. Keill – Ich bin nicht der Auffassung, dass alles knapp und teuer wird. Wie bereits erwähnt, sind im Wesentlichen die Boom-Branchen und ihre spezifischen Produkte tangiert. Nehmen Sie etwa den Bau: Warum ist Holz knapp? Weil Holz als typisches Baumaterial bedingt durch Corona gerade jetzt einen Hype erlebt. Hinzu kommen Sonderfaktoren wie die verheerenden Waldbrände in Kanada und den USA. Bei der derzeit kritischen Nachschubsituation handelt es sich also um eine Ausnahme- und keine Dauererscheinung.
Sander – Auch die gegenwärtige Verknappung und Verteuerung von Kunststoffen bestätigen das von uns Gesagte. Auf dem Höhepunkt der Pandemie traten hier alle auf die Bremse und fuhren Bestände und Kapazitäten zurück. Seit einigen Monaten steigt die Nachfrage branchenübergreifend wieder sprunghaft. Um diese Extreme auszugleichen, braucht es etwas Zeit.
GLASWELT – Die jüngsten Statements aus der Branche und von Verbänden zeichnen ein düsteres Bild durch die aktuelle Entwicklung. Danach geraten Betriebe sogar in eine existenzbedrohende Situation. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Dr. Keill – Dass das Instrument Kurzarbeit derzeit schnell eingesetzt werden kann, beruht natürlich auch auf der Tatsache, dass diese Möglichkeit im Moment sehr viel einfacher durchführbar ist als früher. Die Folge einer dauerhaften Existenzbedrohung durch das unerfreuliche Geschehen an der Material- und Preisfront kann ich nicht erkennen.
GLASWELT – Muss man sich an derartige Verwerfungen auf der Beschaffungsseite gewöhnen?
Dr. Keill – Marcus Sander und ich haben aufgezeigt, dass die Ursachen für die gegenwärtigen Belastungen vielfältig und meist in den gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie begründet sind. Als konsequenter Verfechter der Marktwirtschaft bin ich fest davon überzeugt, dass es solche Verwerfungen generell dauerhaft nicht geben kann. Marktwirtschaft führt stattdessen am Ende stets zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage.
GLASWELT – Das Gesamtthema wird eher „ganzheitlich“ diskutiert. Fehlt es den Beteiligten an der nötigen Differenzierung?
Dr. Keill – Vor allem vermisse ich die wichtige Tugend, ein Thema ohne Hektik anzugehen. In Deutschland neigen wir leider zu Aufgeregtheiten und dazu, Dinge in dunklen Farben zu malen. Denken Sie nur an den Satz „nach Corona ist nichts mehr wie vorher“. Wie viele Krisen gab es schon, bei denen wir sinngemäß das Gleiche hörten? Die Realität war in der Regel eine andere. Diesmal wird es auch so sein.
GLASWELT – Inzwischen mehren sich die Forderungen an die Politik, die Belastungen, etwa durch eine Verlängerung der Kurzarbeiterregeln, abzufedern. Was halten Sie davon?
Dr. Keill – Die Möglichkeit, eigene Probleme im Unternehmen durch die Nutzung staatlicher Hilfe zu kompensieren, ist real. Ich will das auch gar nicht kritisieren. Wir von Roto glauben jedoch, dass es besser ist, sein Geschäft und seine Arbeit zu machen. Dann werden sich auch in diesem Fall die Dinge von alleine beruhigen. Die Politik täte im Übrigen gut daran, Probleme zu lösen und nicht neue zu schaffen. Letzteres passiert gerade: Während wir einerseits über konkrete Versorgungsschwierigkeiten diskutieren, muten wir uns andererseits als einziges EU-Land jetzt ein Lieferkettengesetz zu, das in seiner Schärfe durchaus Beschaffungshemmnisse inkludiert. Jedem muss klar sein, dass diese neue staatliche Regulierung in der Praxis die Beschaffungsthematik weiter verschärft.
GLASWELT – Können die gegenwärtigen Schwierigkeiten am Ende dazu führen, die positive Baukonjunktur nachhaltig zu schädigen?
Dr. Keill – Das glaube ich nicht, denn die Dinge werden sich wieder regeln. Eine eventuelle Bedrohung der Baukonjunktur kommt ausschließlich durch den Endverbraucher. Wenn der weltweit sein Verhalten ändert und z. B. nach der Fertigstellung seines Hauses zum „Renovierungsmuffel“ wird, dann haben wir alle ein substanzielles Problem.
Sander – Auch ich bin der Meinung, dass die aktuelle Situation langfristig keinen negativen Einfluss auf die Baukonjunktur hat. Bei diesen Preissteigerungen kommen wir bald wieder in normales Fahrwasser. Wir erwarten jedoch eine generelle Zunahme inflationärer Tendenzen – das Thema Preisanpassungen dürfte künftig regelmäßig auf der Branchenagenda stehen.
GLASWELT – Sind die Stimmen, die eine Normalisierung der Situation noch 2021 prognostizieren, aus Ihrer Sicht realistisch?
Sander – Ich glaube, dass die Phase der Anspannungen noch bis Jahresende anhält. Im Zuge einer sukzessiven Normalisierung und Stabilisierung der Angebots- und Nachfragesituation sollte sich das Ganze Anfang 2022 wieder beruhigen.
Dr. Keill – Der Materialmangel dürfte auch nach meiner Meinung bald der Vergangenheit angehören. Allerdings schließe ich nicht aus, dass die Marktversorgung dann generell auf einem etwas höheren Preisniveau als vor dem Beginn der aktuellen Störungen erfolgt.
GLASWELT – Kommen wir zur speziellen Situation in der Roto-Gruppe. Welche Rohstoffe und Vormaterialien sind bei Ihnen seit wann und in welchem Ausmaß besonders betroffen?
Dr. Keill – In der Division Dachsysteme (DST) ist das in erster Linie Holz. Aber auch eine Reihe weiterer Fertigungskomponenten wie Blei und kleine Kunststoffteile gehört in die Engpass-Kategorie.
Sander – In der Division Fenster- und Türtechnologie (FTT) ist seit dem 1. Quartal 2021 die Beschaffung von Kunststoff, Zink und Metallen auf der Mengen- wie auf der Preisseite eine große Herausforderung. Bei allen Materialien bewegen sich die Teuerungszuschläge im zweistelligen Bereich.
GLASWELT – Wie gingen und gehen Sie mit der schwierigen Situation um?
Dr. Keill – Das gesamte Roto-Management widmet sich derzeit noch intensiver als sonst dem Beschaffungsthema. Wir führen aktuell wohl doppelt so viele Lieferanten-Gespräche wie in normalen Zeiten. Gemeinsam mit unseren Geschäftspartnern kümmern wir uns nicht nur um die momentane Situation, sondern blicken auch in die nahe Zukunft, um Lieferschwierigkeiten früh ermitteln und ihnen entgegensteuern zu können. Aktives Lieferketten-Management hat daher höchste Priorität. Dazu zählt auch, für einen schnelleren Informationsfluss zwischen unseren Lieferanten und unseren Kunden zu sorgen. Es geht darum, Lieferanten zügig in die gesamten Abläufe zu integrieren und sie dabei für ein Early-Warning-System zu sensibilisieren.
Sander – Da hilft uns natürlich auch unser internationaler Werksverbund. Wir können so die Mengen im Sinne unserer Kunden noch bedarfsgerechter steuern und die Ketten austarieren. Ganz wichtig: Nah am Kunden zu sein, bedeutet für uns gerade in dieser Situation, mit ihm aktiv zu kommunizieren und ihn ebenso umfassend wie früh genug zu informieren. Nur gegenseitiger Austausch schafft gegenseitiges Vertrauen und Verständnis. Kunden unvermittelt vor vollendete (Preiserhöhungs-)Tatsachen zu stellen, war, ist und bleibt nicht Roto-like. Auch so definieren wir gelebte Partnerschaft.
GLASWELT – Können Sie die Zusage einer uneingeschränkten Lieferfähigkeit aufrechterhalten?
Sander – Wir halten diese Zusage derzeit weitgehend ein. Das bleibt auch so, wenn sich das weitere Jahr im Rahmen unserer Forecast-Planungen bewegt. Sie basieren auf einem kräftigen zweistelligen Wachstum. Durch unseren Werksverbund können wir die gegenwärtigen Sprünge bei FTT gut managen. Wir haben die Prozesse im Griff und verfügen über die Kapazitäten, die wir für die Abwicklung der Aufträge brauchen.
Dr. Keill – In der Tat ist das Roto-Produktionsmodell ein entscheidender Erfolgsfaktor. Es beruht auf dem jederzeit flexiblen Einsatz der vorhandenen Maschinen- und Personalkapazitäten. Damit sind wir im Branchenvergleich Leistungsführer. Während Wettbewerber bereits seit Wochen mit deutlich längeren Lieferzeiten operieren, kann Roto nach wie vor gut liefern. Das sieht und honoriert der Markt. Handelt es sich hier doch um ein elementar wichtiges Kaufkriterium. Letztlich tun wir in der gesamten Gruppe alles, um eine unserer größten Stärken – die Lieferfähigkeit – weiter zu sichern. Klar, wenn es zu einer regelrechten Umsatzexplosion kommt, sind auch wir machtlos. Aber bei allem was wir selbst beeinflussen können, sehen wir uns eindeutig im Vorteil.
GLASWELT – Mussten Sie bereits Preisanpassungen durchführen? Oder planen Sie sie konkret?
Sander – Als Konsequenz der angespannten Lage mussten wir Mitte des Jahres einen Teuerungszuschlag erheben.
Dr. Keill – Nach heutiger Einschätzung wird sich der von der Rohstoffpreissituation ausgelöste Preiserhöhungsdruck 2021 in der Gruppe in Richtung 7 % bewegen. Es bleibt abzuwarten, was der Markt tatsächlich hergibt. Natürlich hoffen wir, diese Zahl zumindest annähernd zu erreichen.
GLASWELT – Haben Sie noch eine gemeinsame Schlussbotschaft an unser Leserpublikum?
Dr. Keill und Sander – Egal was passiert, Roto bleibt ein stabiler, verlässlicher Industriepartner.
GLASWELT – Meine Herren, vielen Dank für den Meinungsaustausch.