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DAS FENSTER — ENTWICKLUNGSGESCHICHTE UND STILEPOCHEN, TEIL 5

Die Spuren der Revolution

Gegensätzlicher konnten die Einblicke durch die Fenster der Gebäude im 18. Jahrhundert nicht sein: Während in den Schlössern und Residenzen des Adels Prunk, Protz und Reichtum vorherrschte, lebte das einfache Volk in karger Armut und schuftete für den Wohlstand ihrer Herrscher und Monarchen. Hier tanzte die gepuderte und parfümierte Gesellschaft hinter hohen Drehflügelfenstern in glitzernden Spiegelsälen, dort kämpften ausgemergelte Männer, Frauen und Kinder, zusammengepfercht in dunklen, zugigen Kaschemmen gegen Hunger, Seuchen und den viel zu frühen Tod. Nichts wollte mehr zusammenpassen: Der im Rokoko pervertierte akademische Formalismus der barocken Architektur war in seinem Ausdruck des Überflusses so weit von den ärmlichen und kargen Unterkünften des sogenannten dritten Standes entfernt wie die Lebensbedingungen der jeweiligen Bewohner.

Während Bürgertum und Arbeiterschaft in der Französischen Revolution (1789 bis 1799) gegen die ausbeuterische Vormundschaft mit Barrikaden und Waffengewalt politisch aufbegehrte, keimte mit der Industriellen Revolution seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine tiefgreifende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.

Das Fenster blieb davon nicht unberührt: Zwar war es in konstruktiver Hinsicht bereits während der Barockzeit zu einem selbstständigen Bauelement gereift, das als zweiflügeliges Drehflügelfenster in seiner Grundform bis heute Bestand hat. Jedoch waren die Verglasungen noch immer sehr teuer und qualitativ unzureichend: Die Scheibengröße der Butzen-, Walz- und Tafelgläser war auf unter einen Quadratmeter begrenzt, die Durchsicht durch Wellen und Einschlüsse eingeschränkt. In den Glasfeldern verdrängten die aus Frankreich kommenden Holzsprossen die bis dahin gebräuchlichen Bleisprossen und die Kittfalze lösten alsbald das Problem des Glasaustausches bei Bruch und beseitigten die Durchfeuchtungsschäden in den zunächst üblichen Nuten.

Glas wird qualitativ besser

In England gelingt es 1839 den Gebrüdern Chance, das Zylinderstreckverfahren entscheidend zu verbessern: Indem sie die Arbeitsschritte des Aufschneidens, Schleifens und Polierens des geblasenen Zylinders veränderten, konnten sie den Glasbruch reduzieren und die Qualität der Glas­oberfläche verbessern [1]. Die zahlreichen Gewächshäuser und Orangerien, die in jener Zeit entstanden, forderten und inspirierten die Glasmanufakturen, die immer mehr zu hoch mechanisierten Industriebetrieben mutierten. Um 1850 erreichte die Größe der im Spiegelglas-Verfahren produzierten Gläser etwa 3,5 x 5 m.

Vier Jahre später erhält der Amerikaner Thomas D. Stetson ein Patent für seine Idee, zwei Glasscheiben an deren Rändern so miteinander zu verbinden, dass dazwischen ein wärmeisolierender Luftzwischenraum entsteht – allerdings sollte noch lange Zeit das Problem ungelöst bleiben, wie der Scheibenzwischenraum dauerhaft abzudichten ist.

Schritt für Schritt gelang es im Zuge der industriellen Revolution, die Glasqualität zu verfeinern und die Herstellkosten mehr und mehr zu reduzieren, um die Gläser für die Masse erschwinglich zu machen. 1856 ließ sich Friedrich Siemens einen Schmelzofen patentieren, der mit nur halb so viel Brennstoff wie zuvor auskam und somit die Preise für Glas spürbar senkte. 1886 produzierte der Franzose Gustave Falconnier mundgeblasene Glasbausteine in ovaler und sechseckiger Form, die bei den Architekten und Bauhaus-Legenden Le Corbusier und Auguste Perret sehr beliebt waren. Diese Formen waren die ersten Botschafter des aufkommenden Jugendstils, der ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert in verschiedenen Ländern Europas auf die Ära des Klassizismus und Historismus (ab 1750 bis etwa 1915) folgte.

Gezogenes Flachglas

Ein entscheidender Schritt in der Glasherstellung gelingt 1902 dem belgischen Erfinder und Industriellen Émile Fourcault mit dem nach ihm benannten Verfahren: Damit war es erstmals möglich, Flachglas direkt aus der Glasschmelze zu ziehen. Während des Ziehvorgangs kühlt die Schmelze ab, wobei jedoch quer zur Ziehrichtung eine leichte Wellenbewegung entsteht. Dieser Effekt zeichnet sich in den erhärteten Scheiben als Muster ab. Eine vergleichbare Idee ließ sich der Amerikaner Irving Colburn 1905 mit dem sogenannten Libbey-Owens-Verfahren patentieren: Hierbei wird Glas nicht senkrecht wie bei Fourcault in die Höhe gezogen, sondern über eine Biegewalze in die Waagrechte umgelenkt und in einem bis zu 60 m langen Kühlkanal bis auf Handwärme abgekühlt und geschnitten.

Vom Winter- zum Kastenfenster

Die verbesserten technischen Bedingungen zur Glasherstellung führten natürlich rasch zu größeren Glasformaten bei den Fenstern. In der Folge verschwanden die schadensanfälligen Kreuzsprossen in der Zeit des Klassizismus allmählich aus dem Fassadenbild. Findige Fensterbauer rückten das inzwischen etablierte Winterfenster näher an das eigentliche Fenster heran und machten daraus ein Doppelfenster mit zwei aneinander befestigten Flügeln. In der Konsequenz schälte sich aus dieser Idee das fest in die Laibung integrierte Kastenfenster heraus, dessen beide Flügelpaare jeweils an eigenen Blendrahmenhölzern angeschlagen waren. Die Fensterflügel schlugen entweder nach innen und außen oder beide nach innen auf. Diese Erfindung verbesserte den Witterungsschutz erheblich.

Auch im Detail veränderten sich die Fenster des Klassizismus: Tropfnasen unter den abgeschrägten Wetterschenkeln verbesserten die Wasserableitung und verhinderten so das Durchfeuchten dieses Funktionsholzes, und auch die Profilierung der Fälze veränderte sich zum Vorteil der Regendichtheit [2]. Mancherorts fanden sich sogar Kaut­schukröhrchen als Zusatzdichtung in den angehobelten Kanten der Falze – sozusagen als Vorläufer heutiger Gummi- oder Kunststoffdichtungsprofile. Auch die metallischen Beschläge an den Eckverbindungen verschwanden, weil es üblich wurde, die Fensterprofile zu verleimen und die Scheiben über Kittfalze einzuglasen.

Ein großer Fortschritt war auch in der Beschlagtechnik zu verzeichnen – es kamen die Fitschenbänder auf, die direkt in den Anschlagsfalz des Fensterflügels beziehungsweise in den Blendrahmen eingeschlagen wurden und die traditionellen Winkelbänder und Stützkloben alsbald verdrängten. Den Fensterverschluss besorgten nun auch in Bürgerhäusern moderne – zur Zeit des Barock noch von Hand geschmiedete – Schubriegel, Triebstangen- und Drehstangenverschlüsse.

Zwar hatte sich die Glasherstellung verbessert und Scheiben zählten inzwischen nicht mehr zum unbezahlbaren Luxusgut, jedoch blieb es bis auf Weiteres bei der Einfachverglasung. Speziell in Gegenden mit besonders langen und kalten Wintern behalf man sich entweder weiterhin mit Winterfenstern oder man entschied sich für die inzwischen ausgereiften Doppel- oder Kastenfensterkonstruktionen.

Das Galgenfenster wird Standard

Mit dem Wandel der Stilepochen veränderte sich natürlich auch die Teilung der Fenster. Teilte man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Öffnung häufig durch Mittelpfosten und Querholz auf halber Höhe, rückte das Querholz allmählich nach oben, so dass sich in der Vertikalen eine 2/3- oder 3/4-Teilung ergab. Zumindest in den Flügeln verblieben zunächst die Quersprossen, wurden aber wegen der inzwischen flügelhoch verfügbaren Scheibengrößen immer seltener ausgeführt. So verschwand das viergeteilte Fenster immer mehr aus dem Fassadenbild, während das sogenannte Galgenfenster mit zwei Drehflügeln und querformatigem Oberlicht quasi zum Gestaltungsstandard wurde. Passend zu dem gerade vorherrschenden Architekturstil zeigten sich die außenseitigen Profilierungen der Fenster – mal eher streng und geradlinig, wie im Klassizismus, mal mit antiken Anleihen in der Phase des Historismus oder eben blumig und zierlich verspielt während des Jugendstils.

Noch schrieb keine Norm den Herstellern vor, wie ein Fenster zu konstruieren war, und die wenigen Metallfenster, die es gab, machten dem Holzfenster keineswegs die alleinige Marktführerschaft strittig. Das sollte sich mit dem Aufkommen der Kunststoffindustrie bald ändern. —

[1] Schittich, Christian et al.: Glasbauatlas, Institut für Intern. Architekturdokumentation, München, 1998.

[2] Neumann, Hans-Rudolf et al., Fenster im Bestand – Grundlagen der Sanierung in Theorie und Praxis, expert verlag, Renningen, 2003.

Der Autor

Klaus Siegele war nach einer Schreinerlehre und dem Architekturstudium zehnJahre Redakteur bei der db ­deutsche bauzeitung und führt seit 2000 ein eigenes Architekturbüro. Er ist Fach- und Buchautor für Architektur, Bautechnik, Nachhaltigkeit und energieeffizientes Bauen und für viele Fachzeitschriften, u. a. den Gebäude-Energieberater GEB, ­tätig.

https://bau-satz.de/

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