Der Austausch alter Fenster ist für einen kompetenten Handwerksbetrieb wahrlich keine große Herausforderung. Ein jeder Fachmann weiß um die Relevanz des luftdichten Anschlusses und kennt die konstruktiv-bauphysikalischen Anforderungen an Rahmen, Flügel und Verglasung. Wer sich darüber hinaus mit der gefürchteten Schimmelproblematik nach einem Fenstertausch auseinandergesetzt hat, klärt seinen Kunden gewissenhaft darüber auf, wie dieser sein Lüftungsverhalten fortan verändern muss, um derartige Schäden und die damit verbundenen Gesundheitsgefahren gar nicht erst aufkommen zu lassen. Werkzeug einpacken, Schmutz und Abfall entfernen – fertig ist die Kiste. Aber erst wenn auch beim Einsteigen in den Firmenlaster der abschließende Blick zurück auf die Fassade mit den neuen Fenstern kein unbehagliches Bauchgefühl erzeugt, kann ein Fensterbauer mit Fug und Recht von sich behaupten: Das war gute Arbeit.
Proportionen geraten oft aus dem Lot
Manchmal beschleicht einen Handwerker in solchen Momenten jedoch das Gefühl, dass die Fassade zuvor irgendwie stimmiger ausgesehen hat. Man mag es sich nicht eingestehen und muss doch zugeben, dass die Proportionen der wuchtigen Rahmenanteile gegenüber den verbliebenen Glasflächen ein wenig aus dem Lot geraten sind und die Fensterteilung in dem Geschoss darüber mit den alten, ursprünglichen Fenstern eindeutig besser zu der zierlichen, ornamentierten Gründerzeitfassade passt. Und vielleicht wäre es bei dem Fachwerkhaus neulich doch tatsächlich klüger gewesen, dem Kundenwunsch nach günstigen weißen Kunststofffenstern nicht gleich nachzugeben, sondern stattdessen passend zu dem puristisch geprägten Charakter des Hauses lackierte Holzfenster vorzuschlagen. So hätte es sich vielleicht vermeiden lassen, dass man die neuen Fenster plötzlich als Fremdkörper in der Architektur empfindet, weil Gestaltungsfragen entweder zu spät oder gar nicht erörtert und hinterfragt wurden.
Kein Fenstertausch ohne Bestandsaufnahme
Doch erlauben die vielseitigen technischen und bauphysikalischen Anforderungen an ein Fenster heutigen Standards einem Handwerker überhaupt genügend Spielraum, um nach Alternativen zu suchen, die auch gestalterischen Gesichtspunkten gerecht werden? Die Antwort hierauf lautet eindeutig: Ja!
Jeder Fensterhersteller hat inzwischen Profilserien und Verglasungen in seinem Programm, die auf stilistische Fragen Rücksicht nehmen und die Eigenschaften moderner Fenster mit denkmalspezifischen Anforderungen hinsichtlich Proportion und Materialwahl in Einklang bringen. Das allein nützt jedoch nichts, wenn die Fragen nach der geeigneten Profilstärke, der stilsicheren Fensterteilung, dem passenden Rahmenmaterial, der harmonischen Farbgebung und der geeigneten Verglasungsart erst gestellt werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.
Dem eigentlichen Fensteraustausch muss daher eine kritische und umfassende Bestandsaufnahme vorausgehen, bei der es darum gehen muss, die Relevanz der Fenstergestaltung für die Architektur und damit den Wert des Gebäudes zu erkennen. Manchmal kann eine solche Analyse sogar zu dem Schluss führen, dass es besser ist, die alten Fensterstöcke aufzuarbeiten und mit einer neuen Verglasung zu versehen. Auch hierfür sind am Markt Lösungen vorhanden, die man als Fensterbauer kennen sollte.
Kompetenz in Stilfragen
Es ist sicher keine leichte Aufgabe, mit einem Kunden über Stilfragen zu diskutieren, wenn dieser die Kosten oder bestimmte funktionale Aspekte über alles andere stellt. Ihn zu überzeugen und für die Thematik zu sensibilisieren gelingt nur, wenn die Argumente für die Wahl spezieller Fensterlösungen plausibel und überzeugend dargelegt werden. Wer verstanden hat, warum ihn eine Billiglösung am Ende teuer zu stehen kommt, wird sich gegenüber Mehrkosten nicht mehr grundsätzlich verweigern. Um für derartige Kundengespräche gewappnet zu sein, muss ein Handwerker die Entwicklungsgeschichte des Fensters kennen, die Klaviatur der Stilepochen möglichst gut beherrschen und ein geschultes Auge für gestalterische Konsequenzen entwickeln. Eine frappierend wirksame Geheimwaffe für solcherart Gespräche ist eine Fotosammlung von Fenstersanierungen, die sowohl ein Horrorkabinett zur Abschreckung als auch vorbildliche Lösungen enthält. Welcher Kunde möchte sich gegenüber der Nachbarschaft schon als Kulturbanause outen, der die wahren architektonischen Qualitäten seines Juwels nicht erkennt und rücksichtslos das schönste Gebäude in der Straße ohne Not zum Aschenputtel macht?
Somit liegt es in der Verantwortung des Fensterbauers, den Kunden darauf hinzuweisen, dass ein neues Fenster nicht nur den Anforderungen der Energieeinsparung zu entsprechen hat, sondern auch zum Charakter des Hauses in Form, Material und Farbe passen muss.
Auch Fenster sind Baukultur
Es fällt auf, dass die Sensibilität beim Fenstertausch hinsichtlich Gestaltungs- und Stilfragen um so ausgeprägter ist, je länger das Gebäude-Baujahr zurückliegt. An dieser Prämisse lässt sich festmachen, dass vorwiegend Laien die Relevanz erhaltenswerter Baukultur vom Alter eines Gebäudes abhängig machen – also je älter, desto schützenswerter. Bauten der Nachkriegszeit haben es prinzipiell schwer, ihr ursprüngliches Gesicht zu wahren, wie viele nach einem Fenstertausch verunstaltete Beispiele aus dieser Epoche zeigen. Auch die Bauhaus-Ära und Gründerzeithäuser bleiben oft nicht von gesichtslosen Kunststofffenstern verschont, und selbst bei zierlichen Fenstern aus der Jugendstilzeit scheuen deren Eigentümer nicht davor zurück, die Sprossen aus der wohl proportionierten Fensterteilung zu tilgen. So geht mit jedem weiteren Fenstertausch immer auch ein Stück Baukultur verloren, wenn profilierte Galgen- oder Kreuzstockfenster auf dem Müll landen und stattdessen die Öffnungen mit aalglatten Fensterprofilen und schweren, großformatigen 3-fach-Isoliergläsern geschlossen werden.
Entwicklungsgeschichte des Fensters
Mit diesem Appell, bei einer anstehenden Fenstersanierung vor dem Zücken des Auftragsbuches kurz innezuhalten und vor Angebotsabgabe genau zu prüfen, in welchem gestalterischen Kontext die künftigen Fenster stehen werden, startet in der GLASWELT eine mehrteilige Serie über die Entwicklungs- und Stilgeschichte des Fensters. Dabei werden die zeittypischen Fensterkonstruktionen ebenso erläutert wie die üblicherweise verwendeten Materialien für die Profile, Verglasung und Beschläge.
Die technische Zeitreise orientiert sich dabei am Verlauf der gestaltungsrelevanten Stilepochen: Sie beginnt mit den Steinkreuzfenstern der Renaissance, geht über die Schiebeflügelfenster des Barocks, die strengen und schlichten Formate des Klassizismus, die Segmentbögen der Gründerzeit, die schlanken Holz- und Stahlprofile des Jugendstils und der Bauhaus-Ära bis hin zu den Sparlösungen der entbehrungsreichen Nachkriegszeit. —
Der Autor
Klaus Siegele, geb. 1963 in Stettfeld (Baden), studierte nach einer Schreinerlehre an der FH Karlsruhe Architektur. Er war 10 Jahre Redakteur bei der db deutsche bauzeitung und führt seit 2000 ein eigenes Architekturbüro in Ubstadt-Weiher. Er ist Fach- und Buchautor für Architektur, Bautechnik, Nachhaltigkeit und energieeffizientes Bauen und für viele Fachzeitschriften, u. a. den Gebäude-Energieberater GEB, tätig.