Nahezu alle maßgeblichen Verbände der Bauwirtschaft in Deutschland haben in den letzten Wochen auf die schwerwiegenden Konsequenzen des Ukrainekrieges für die Branche hingewiesen. Rohstoffverfügbarkeit und Materialversorgung, drastische Energiepreisanstiege und Probleme im internationalen Fracht- und Logistikmanagement sind hier die zentralen Positionen. Die bauchemische Industrie spürt die Auswirkungen immer deutlicher. Dauert diese Situation an, rechnet die Branche mit einem Stillstand auf vielen wichtigen Baustellen.
Erdgas ist der wichtigste Energieträger für die chemische Industrie
Die Gaspreise sind weiter massiv angestiegen, seit Kriegsbeginn um über 70 %, so der Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die anhaltende Unsicherheit über die Zuverlässigkeit russischer Gaslieferungen verstärkt den Preistrend nach oben deutlich. Sollte es zu einem Lieferstopp kommen, würde es nach Experten-Aussagen einen weiteren deutlichen Preissprung nach oben geben. Erdgas ist mit einem Anteil von über 43 % der wichtigste Energieträger für die Chemische Industrie.
Explodierende Gaspreise ziehen auch die Preise für die Stromerzeugung stark nach oben. Kritisch ist die Lage beim Diesel. Rund 14 % des hierzulande vertankten Diesels stammen aus russischen Raffinerien. Spekulationen an den internationalen Märkten treiben die Preise weiter. Gleichzeitig sind Gas-, Öl-, Strom- und Dieselpreise einer enormen Preisvolatilität unterworfen, was die Planbarkeit massiv erschwert. Es muss jederzeit mit kurzfristig weiter steigenden und stark schwankenden Preisen gerechnet werden. Die angespannte Lage der Unternehmen aufgrund der hohen Energiepreise spitzt sich laut VCI seit Kriegsbeginn zu.
Welche Rohstoffe besonders knapp sind
Für die Branche wichtige Rohstoffe und Komplementärprodukte sind auf dem Beschaffungsmarkt derzeit nicht in ausreichender Menge verfügbar. In einer Mitgliederbefragung des VCI im März 2022 zeigten sich 79 % der Unternehmen schwer oder sehr schwer betroffen von den Engpässen bei den Vorprodukten und den hohen Rohstoffkosten; sie sprechen von einer deutlichen Verschlechterung der Produktionsbedingungen in den letzten Wochen.
Massive Störungen der Lieferketten und Logistik
Die unter anderem durch Corona bestehenden Probleme in den globalen Zuliefernetzwerken würden durch den Krieg in der Ukraine verschärft und Produktionseinbußen erhöhen sich, diagnostiziert das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft. Rund 60 % der Industrieunternehmen melden zusätzliche Störungen in der Lieferkette und Logistik als Folge des Krieges, erklärte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK) Mitte März. Logistik-Dienstleister beklagen den Abgang zahlreicher osteuropäischer Kraftfahrer, die als Kriegsfreiwillige ihre Heimat verteidigen möchten; die Kosten für Logistikservices steigen deshalb und aufgrund der Dieselpreisentwicklung stark an. Aktuelle Probleme entstehen zudem durch den Lockdown in Wirtschaftsmetropolen wie Shanghai, Shenzhen, Changchun und Tangshan. So ist etwa der Yantian-Hafen in der Wirtschaftsmetropole Shenzhen zwar geöffnet, die Verladung von Containern hat sich aber deutlich verlangsamt, weil Hafenarbeiter und Lkw-Fahrer zu Hause bleiben. Diese Verzögerungen werden in Europa über kurz oder lang zu spüren sein.
Was die Chemische Industrie jetzt plant
Das Bundesbau- und das Bundesverkehrsministerium haben Ende März einen Erlass veröffentlicht, mit dem das Thema Lieferengpässe und Stoffpreisänderungen für den gesamten Bundesbau einheitlich geregelt werden soll. Der Erlass ordnet für bestimmte Baustoffe wie zum Beispiel Epoxidharze, Stahl oder Bitumen die Anwendung der Stoffpreisgleitklausel an. Ein wichtiger Punkt für die Anwendbarkeit der Stoffpreisgleitklausel ist die Verkürzung des Mindestabstands zwischen Angebotsabgabe und Einbau von sechs auf einen Monat. Dadurch können, anders als in der Vergangenheit, auch viele kurzlaufende Bauverträge in die Preisgleitung einbezogen werden.
Die Erhöhung der Flexibilität in den Lieferkonditionen ist nicht nur bei öffentlichen Aufträgen unbedingt erforderlich. In der Vergangenheit wurde den Kunden häufig ein fester Jahrespreis bzw. ein über die Dauer eines Bauprojektes fixierter Produktpreis angeboten – dies ist jetzt nicht mehr möglich.
Die Unternehmen der Deutschen Bauchemie rechnen mit einem dauerhaft hohen Preisniveau bauchemischer Erzeugnisse. Darüber hinaus hat die Branche wie die Wirtschaft insgesamt mit der hohen Inflationsrate zu kämpfen. Sie soll nach Schätzungen von Experten in diesem Jahr auf durchschnittlich deutlich über 5 % steigen (SZ, 23.03.22). Das war in Deutschland zuletzt vor über 40 Jahren der Fall, die Inflationsrate kletterte damals nach der zweiten Ölpreiskrise auf 6,3 %.