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Prof. Sieberath

Grenzenlos: Konstruktionen, Märkte, Technik

_ Beobachtet man die aktuellen Auseinandersetzungen in der EU, mag man sich die Frage stellen: „War es das mit Europa?“ Alle, die sich nicht mehr an die Zeiten vor dem Binnenmarkt erinnern können oder möchten, seien gewarnt, dass

  • lange Wartezeiten an den Grenzen,
  • Währungsrisiken,
  • unterschiedliche Zölle,
  • unzählige nationale Normen und Vorschriften

Unsummen an Geld, Zeit und Energie kosten. Auch wenn die aktuellen europäischen Normen vielfach als zu kompliziert empfunden werden – es war mit unzähligen nationalen Regelwerken noch viel schlimmer. Ein internationaler Austausch aufgrund des immensen Aufwands für Nachweise war – wenn überhaupt – nur für die großen Player möglich. Der Binnenmarkt ist eine große Errungenschaft und Erleichterung; man muss deshalb optimistisch bleiben und an die Vernunft aller Verantwortlichen appellieren.

Was geschieht, wenn man diese Errungenschaft leichtfertig aufgibt, macht derzeit der Brexit vor. Großbritannien wird im Frühjahr aus der EU austreten – wie genau weiß eigentlich niemand. Großbritannien müsste mehr als 21 000 Normen, Vorschriften und Regelwerke neu verfassen – eine unlösbare Aufgabe und eher unwahrscheinlich. Zudem ist das Normungsinstitut in Großbritannien BSI nach wie vor Mitglied im CEN.

Die CEN-Regularien und Statuten verpflichten jedes nationale Normungsinstitut, europäische Normen unverändert als nationale Normen zu übernehmen und „abweichende nationale Normen“ zurückzuziehen. Allein dies sollte die Sicherheit geben, dass die in Europa ausgehandelten Normenkompromisse auch nach wie vor in Großbritannien breite Anwendung finden werden. Dabei trifft es nicht nur den Warenverkehr; die Verflechtungen sind vielfältig, was auch der Blick in die Brexit-Checkliste der IHK (www.ihk.de/brexitcheck) bestätigt (Bild 1).

Was noch nicht abschätzbar ist, wie mit der verpflichtenden CE-Kennzeichnung und dem freien Warenverkehr umgegangen wird. Ein hoffnungsvoller Blick in die Schweiz zeigt eine Möglichkeit. Um die Wirtschaft konkurrenzfähig zu halten, wurde die europäische Normungsverordnung auf dem Hoheitsgebiet der Schweiz in gleicher Weise wie im Rest Europas verpflichtend eingeführt.

Begrenzte Ressourcen

Unsere Ressourcen sind begrenzt; Menschen (= Fachkräfte), Rohstoffe, Energie, selbst Baustoffe wie Sand werden knapp oder es kommt zu Versorgungsengpässen. Derzeit leisten wir uns, dass viele Rohstoffe in der Entsorgung aus der „Technosphäre“ wieder verschwinden und meist auch noch zu einer Belastung der „Biosphäre“ werden. Dabei handelt es sich meist um vorher aufwendig erzeugte Materialien, die höchstens einem Downcycling-Prozess unterzogen werden. Es fehlen hierbei noch wesentliche Grundlagen zum Rückbau (Bild 2), zu Sortierung und Aufarbeitung von Materialien. Viele Studien haben allerdings gezeigt, dass diese Methoden langfristig besser und günstiger funktionieren würden, als immer neues Material aus sich verknappenden Ressourcen zu gewinnen (Bild 3).

Noch ist es schwierig, aus dem Stoffgemisch eines jahrzehntelangen Gebäudelebens eindeutige und hochwertige Rohstoffe zu gewinnen. Systeme wie das Cradle to Cradle-Design-Konzept von Prof. Dr. Michael Braungart müssen daher schnellstmöglich auch im Bau Fuß fassen. Das Ziel muss eine vollständige Bekanntheit aller im Gebäude eingesetzter Stoffe werden. Die Herausforderung dabei ist, diese Daten über die Jahrzehnte der Nutzung und Überarbeitung zu hinterlegen und nachzuführen.

An BIM führt kein Weg vorbei

Separate Planungsprozesse der Gewerke, „handwerkliche“ Erstellung von Zeichnungen, Unmengen von Schnittstellen zu koordinieren: Die gängige Planungspraxis am Bau ist für solche Herausforderungen nicht ausgelegt. Damit führt an BIM (Building Information Modelling) mittelfristig kein Weg vorbei. Statt Papier werden „verlässliche“ Daten wie Maximalmaße, Leistungseigenschaften, Materialspezifikation, Wartungs- und Instandhaltungsinformationen bis hin zu Informationen zu Rückbau, stofflicher Trennung und Umweltwirkung benötigt. Diese werden dann ganzheitlich im Planungsprozess berücksichtigt. Bauteile und Werkstoffe müssen dann dauerhaft gekennzeichnet werden und/oder Daten speichern können. Über QR-Codes oder Transponder lassen sich leicht die erforderlichen Datensätze speichern und aufrufen.

Der CE-Generator des ift Rosenheim ist dabei ein Mosaikstein bei der Versorgung derartiger Planungssysteme mit verlässlichen Daten. Aus dem Nachhaltigkeitsproduktpass kommen dazu die umweltrelevanten Informationen wie zu Inhaltsstoffen (REACH), Umweltproduktdeklaration und weitere Angaben wie für das Recycling.

Konstruktionsgrenzen

An den grundlegenden Konstruktionsprinzipien von Fenstern und Türen und an den Werkstoffen hat sich in den vergangenen Jahren nicht wirklich etwas getan. Dennoch ist das Bestreben weiterhin gegeben, immer größere, schwerere Bauelemente mit komplexeren Anforderungen in die Baupraxis für 40 Jahre Nutzung zu erstellen. Man gibt sich viel Mühe im Rahmen der Systemprüfungen Grenzen herauszuarbeiten und Konstruktionsempfehlungen zu geben. Hierzu gehören notwendige Aussteifungsprofile vor allen Dingen in Kunststofffenstern sowie der maximale Abstand der Verschraubungen, maximale Größen zur Sicherstellung der Dichtheit und zur Begrenzung von Verformungen, die Flügelteilung sowie Vorbemessungsdiagramme mit Angabe von maximalen Flügelgrößen und Beschlagabständen und vieles mehr. Je näher diese Konstruktionsgrenzen kommen, desto kritischer wird es nach allen Erfahrungen in der Praxis. Somit sind diese Grenzen zwar das technisch Machbare, aber meist nicht das technisch Sinnvolle.

Die Wechselwirkungen sind auch für Nicht-Fensterfachleute nachvollziehbar, z. B. der stets kritische Einfluss von dunklen Oberflächen auf der Außenseite:

  • Holz: Rissanfälligkeit und Austritt von Inhaltsstoffen
  • Kunststoff: Verformungen und Erweichung bei ca. 70 °C
  • Metall: Ausdehnung und Bimetall-Effekt

Die Themenliste lässt sich beliebig fortsetzen. Dennoch werden kritische Konstruktionen geplant und von der Branche häufig ohne Bedenkenanzeige ausgeführt. So muss man dann über einige Aussagen schmunzeln, wie beispielsweise dass Kunststoffrollläden in dunkler Farbgebung nicht als Sonnenschutz zu verwenden sind.

DIN 18008 und die Risikobeurteilung

Neue Grenzen liefert die „neue“ DIN 18008-2. Trotz der Einsprüche einiger Fachkreise wurde der Entwurf zwischenzeitlich beraten und verabschiedet, sodass davon auszugehen ist, dass eine neue Bemessungsnorm im Laufe des nächsten Jahres in Kraft tritt. Die Fakten:

  • Es gibt keine Fenster mit Nachweiserleichterung für Fensterflächen unter 1,6 m² mehr.
  • Die Kriterien für kleinformatige Scheiben und die damit verbundenen Sicherheitsregeln sind so justiert, dass diese bemessen werden können.
  • Es wird die Forderung nach Sicherheitsglas („Glas mit sicherem Bruchverhalten“) bei zugänglichen Verglasungen im Brüstungsbereich kommen.
  • Neu ist eine Öffnungsklausel, dass hiervon abgewichen werden kann, wenn im Rahmen einer Risikoabschätzung ein geringes Risiko ermittelt wird.

Ob Letzteres dann in der Praxis wirklich als Lösung taugt, wird sich zeigen müssen. Diese Risikobeurteilung muss sicher der Fachplaner und Architekt in Zusammenarbeit mit dem Bauherrn durchführen und verantworten. In Diskussion sind Einflüsse, z. B. Produkte/Öffnungsart, Einbaulage/-situation des Elements, Abmessungen der Scheibe, bauliche oder sonstige (z. B. Bepflanzungen) Abschirmungen, …

Während sich normativ die Statik von Fenstern nicht verändert hat (im Vordergrund stehen hier Durchbiegungskriterien, vorgegeben durch die RAL-Gütesicherung und Einsatzempfehlung wie DIN 18055), wird sich bei der Fassade so einiges ändern. Hier steht mit einer weiteren Überarbeitung der Fassadennorm EN 13830 im Wesentlichen die Tragfähigkeit der Fassade im Vordergrund. Verformungskriterien – im Wesentlichen ein Kriterium der Gebrauchstauglichkeit – und Qualität sind künftig separat zu vereinbaren.

Grenzen überschreiten

Ist die Entwicklung der Fenster also abgeschlossen? Beim U-Wert ist dies sicher zu bejahen, zumindest unter Berücksichtigung der heute wirtschaftlich vertretenen Materialtechnologie. Der bezüglich der Energiebilanz beim Fenster meist links liegen gelassene Energiezugewinn ist dagegen der Schlüssel für die Weiterentwicklung. Längst existieren positive Energiebilanzen bei Plus-Energiehäusern. Dies zeigt der Entwurf zum Gebäudeenergieausweis auf der linken Achse erweitert mit energetischem Zugewinn (Bild 4).

Bei einer Bilanz sind immer beide Seiten von Interesse. Um die unsägliche U-Wert-Diskussion im 1/1000stel-Bereich zu beenden, müssen alle Verluste und Zugewinne über unsere Bauteile richtig dargestellt und einbezogen werden. Hier kommt aktuell als Kenngröße – vor allem für die Sanierung – ein U-äquivalent aus Wärmeverlusten und solarem Zugewinn wieder in Diskussion. Dieser vereinfachte Ansatz verspielt einiges an Potenzial, da die Entwicklung des Energy-Labels gezeigt hat, dass auch merkliche Effekte wie Lüftungsverluste oder die Anbindung an technische Gebäudeausstattung bei dieser einfachen U-eq-Bilanzierung verloren gehen. Das Energy-Label war und ist deshalb der bessere Ansatz. Das Berechnungstool dazu befindet sich nach wie vor kostenfrei zur Nutzung auf der ift-Website.

Um die aktuellen konstruktiven Grenzen zu überwinden, ist der wichtigste Baustein die Forschung. Wesentliche Impulse, welche die Fenstertechnik in Deutschland und Europa weltweit führend gemacht haben, resultieren aus Forschungsprojekten:

  • die Gasfüllung und Beschichtungstechnik von Isolierglas in den 80er-Jahren,
  • die thermische Trennung beim Wärmeschutz und ihre Wirkungsweise in den 90er-Jahren,
  • die Holzverbund- und Laminiertechnik zum wirtschaftlichen Einsatz von Holz und Holzwerkstoffen,
  • nachhaltige Nutzung der Ressourcen und Entsorgungskonzepte,
  • das Zukunftsfenster,
  • Elektronik im Fensterbau

sind nur einige wichtige Beispiele aus Forschungsprojekten des ift Rosenheim. Die meisten beschreiben Zusammenhänge und Erkenntnisse, die heute noch zur Anwendung empfohlen sind. Aktuell kommt dieser Antrieb ins Stocken. Mittel für praktische Themen des „Fensteralltags“ sind nur noch schwerlich zu bekommen. Im Vordergrund stehen nun Themen wie Digitalisierung, Netzwerkausbau, Quartiersplanung der Zukunft und Elektromobilität.

Das ift Rosenheim arbeitet mit Politik, Forschungsstellen und Förderstellen daran, die für den Baubereich so wichtigen Themen der täglichen Praxis wieder platzieren zu können. Die Möglichkeiten vor allem in Bereichen der Energieeinsparung, der nachhaltigen Verwendung von Ressourcen, robuste Elektronik, Konzepte zur wirtschaftlichen Wartung und Instandhaltung zur Verlängerung der Lebenszyklen – aber auch das zuvor angesprochene Thema der Datenbereitstellung für neue Planungsprozesse erscheinen so wichtig, um die Branche insgesamt voranzubringen. Aktuelle Projekte zum Thema Befestigung von Fenstern in hochwärmedämmendem Mauerwerk oder einbruchhemmende Fenster haben gezeigt, dass nach wie vor gute praktische Lösungen erarbeitet werden können.

Grenzen grenzenlos?

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass unser Leben – beruflich wie privat – von Grenzen bestimmt ist. Grenzen sind nicht per se schlecht; so definieren sie oft das Machbare. Durch Innovationsfreude, Forschung und die Kraft harmonisierter Regeln konnte so manche Grenze nachhaltig zum Positiven verschoben werden. In dem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam an den Grenzen arbeiten, diese verstehen, richtig umsetzen und die gewonnenen Freiräume gegen neue Grenzen verteidigen.—

Prof. Ulrich Sieberath, Institutsleiter ift Rosenheim

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