_ Auch wenn das Fachbuch sich nicht ausschließlich mit Türschwellen (und Bauwerksabdichtungen/Anschlüssen) auseinandersetzt, ist die Gestaltung dieser doch entscheidend für den Zweckgehalt ganzer Balkone, Loggien und Terrassen. Wird den Eigentümern und Nutzern die Zugänglichkeit durch Türschwellen verwehrt, nutzt ihnen der ganze Freisitz nichts. Es gibt Menschen mit Behinderung und ältere Menschen, denen Assistenz und Pflege verwehrt bleibt und die nicht selbstständig über 1 – 2 cm hohe Türschwellen gelangen können. Sie sitzen oft allein in der Wohnung und können wegen der technisch überholten Türschwellen bzw. Aufkantungshöhen nicht mal auf ihren Freisitz gelangen. Hinzu kommt die zunehmende Sturzgefahr in einer alternden Gesellschaft. Bei derartig einschneidenden Veränderungen und dem Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) und dem längst bekannten demografischen Wandel ist es für ein derartiges Fachbuch fragwürdig, allein auf technische DIN-Normen und Richtlinien einzugehen und barrierefreie Türdichtungen ohne die dazugehörigen industriell vorgefertigten Bauwerksabdichtungen auf nur einer von über 220 Seiten abzuhandeln.
Weiterhin kann ich Herrn Herre bei einem so komplexen baurechtlichen Thema vor derartig pauschalen Aussagen, wie „barrierefreie Türschwellen sind zwar wünschenswert, aber keine Pflicht“ nur warnen. In Baden-Württemberg z. B. sind laut MVI Nullschwellen auch zu den Freisitzen in allen Gebäuden nach § 39 LBO (z. B. Betreutes Wohnen, Pflegeheime, Kitas usw.) vorgeschrieben – also Pflicht! Allein von den betreuten Wohnanlagen wurden die letzten Jahre zahlreiche gebaut und bezuschusst. Meine bisherigen Recherchen legen nahe, dass fast jede dieser betreffenden Terrassen- und Balkontüren 1 – 2 cm hohe Türschwellen aufweist – schwindelerregend hohe Haftungsrisiken für Bauschaffende und Leser dieses Fachbuches aufgrund von Wissenslücken, die sich nicht nur auf BW begrenzen. Denn eine weitere wichtige Info fehlt. Bereits 2013 hat die Fachzeitschrift „behinderte menschen“ eine Stellungnahme des Arbeitsausschusses der DIN 18040 im DIN e.V. öffentlich gemacht (Jocham 2013: 77). Allerspätestens seitdem ist klar, dass 1 – 2 cm hohe Türschwellen nach DIN 18040, aber auch nach DIN 18195 (bzw. E DIN 18533) und nach der Flachdachrichtlinie Sonderfälle/Einzelfälle sind (gleich mehrfaches Haftungsrisiko). Seit dieser Stellungnahme ist auch klar, dass Nullschwellen beim Bauen nach DIN 18040 vorgeschrieben sind und dass 1 – 2 cm hohe Schwellen als absolute Ausnahmen technisch begründet werden müssen. Diese Anforderungen gelten bundesweit für alle Balkon- und Terrassentüren, für welche die DIN 18040 maßgebend ist, je nach LBOs und LTBs.
Entgegen den Behauptungen von Herrn Herre unterscheide ich ausführlich in meinen bisherigen Ausführungen zwischen Andichtungen und Türdichtungen, die seit über 15 Jahren zeigen: „Es geht ohne Schwelle“ und die sich sogar in einem Forschungsbericht vom AIBAU positiv hervorheben. Zum einen ist diese industriell vorgefertigte Magnet-Doppeldichtung in dem Bericht die einzig wirkliche Nullschwelle und Schadensfälle gibt es erstaunlicherweise nur bei Schwellendichtungen zwischen 1 – 5 cm Höhe. Weiterhin werden die industriell vorgefertigten Andichtungen dieser Nullschwelle sogar explizit empfohlen. (AIBAU: 5) Beim Thema Schlagregensicherheit nach DIN EN 12208 erreichte diese Technik gleich zu Beginn die revolutionäre Schlagregensicherheit der Klasse 9 A, heute sogar schon E 1200. Die 2 cm sind laut ift Rosenheim ohne zusätzliche konstruktive Maßnahmen noch bei 5 A (ift 2016: 17f).
Und noch eine letzte Sache: Was für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen geeignet ist, sollte den Experten in eigener Sache und entsprechenden Professionellen überlassen werden. Das Ziel der UN-BRK ist eindeutig: Universal Design – und das ist bei Übergängen von innen nach außen für alle längst möglich.—
Die Literaturliste für den Beitrag haben wir hinterlegt unter www.glaswelt.de/Service/Downloads
Ulrike Jocham
Die Diplom-Ingenieurin (Architektur) und Heilerziehungspflegerin hat interdisziplinäre Berufspraxis in zahlreichen Professionen wie z. B. Behinderten-, Alten-, Kinder- und Jugendhilfe, Design und Wohnungswirtschaft. Heute ist sie als Vermittlerin und Expertin für inklusive Wohnprojekte tätig und betreibt die Unternehmensberatung inklusiv wohnen/inklusiv leben.