Glaswelt – Herr Ensslen, warum haben Sie ein neues Modell zur Berechnung des Randverbunds von Isoliergläsern entwickelt?
Frank Ensslen – Aufgrund des zunehmenden Einsatzes von 3-fach-Gläsern ist es heutzutage unerlässlich, ISO-Einheiten als Ganzes zu betrachten, um diese sicher, zuverlässig und wirtschaftlich berechnen und dimensionieren zu können. Der Aufbau und die Umsetzung eines gängigen zweistufigen Isolierglas-Randverbunds – dessen Funktionsweise auf dem komplexen Zusammenspiel von Primär- und Sekundärdichtung (d. h. zweier Polymerdicht- bzw. Klebestoffe) und einem Abstandhalter(-Profil) beruht – haben zwar bisher in der Praxis bei vielen Millionen von ISO-Einheiten „irgendwie“ funktioniert, bislang gibt es jedoch soweit uns bekannt keine Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Projekten. Wir wollten ein ingenieurmäßigen Ansatz entwicklen, der bei der Berechnung von Mehrscheiben-ISO die relevanten Einflussgrößen ganzheitlich berücksichtigt.
Neben mir als Initiator des 3-jährigen Projekts, waren Heinz-Rainer Becker vom Ingenieurbüro Becker-Görz-Meister in Hagen und Dr. Wolfgang Wittwer von Kömmerling Chemische Fabrik in Pirmasens als Partner eingebunden.
Glaswelt – Worin unterscheidet sich die jetzt neue Methode gegenüber der bisherigen Herangehensweise?
Ensslen – Das neu entwickelte (nachgiebige) Modell des Isolierglases berücksichtigt erstmals das zeit- und temperaturabhängige Verhalten des Randverbunds als Ganzes, in Form von unterschiedlichen Steifigkeiten. Es wird somit ermöglicht, den Einfluss der elastischen Verformung des Randverbunds – und infolgedessen einer möglichen Volumenvergrößerung des Scheibenzwischenraumes – auf die Glasspannung und die daraus resultierende Beanspruchung des Randverbunds (Randlast) zu beschreiben.
Glaswelt – Und nutzt das neue Modell die Eigenschaften der einzelnen Materialien besser aus?
Ensslen – Ja, unser Modell berücksichtigt erstmals überhaupt die konkreten Materialeigenschaften des Randverbunds. Die bisherigen Ansätze haben diese vernachlässigt.
Glaswelt – Und welche Vorteile bringt die neue Bemessungsweise in der Praxis? Wie profitieren ISO-Hersteller und Fensterbauer davon?
Ensslen – Jetzt sind wir in der Lage, die Geometrie des Randverbunds wirtschaftlich zu optimieren, das schließt auch die Dicke der einzusetzenden Glasplatten mit ein. Weiter können wir nun nachweisen, ob bzw. dass eine Isolierglasscheibe auch unter z. B. einer hohen Klimalast funktioniert. Mit unserem Modell lässt sich die maximale Randlast infolge des Innendrucks der Isolierglas-Einheit ermitteln. Es ist daher bei besonderen Fassadengläsern (u. a. gebogenen Konstruktionen, 3-fach-ISO mit dicken Gläsern und/oder kurzen Kantenlängen) hilfreich, um die Dauerhaftigkeit zu beurteilen.
Eine weitere Option ist, dass auf der Basis des Modells auch der Anschluss der Isolierglas-Einheit zur Fenster-/Fassadenkonstruktion dargestellt und letztendlich deren Einflussfaktoren (wie z. B. Steifigkeit, Dichtlippen, Nassversiegelung) auf die Glasspannungen/Randlast berücksichtigt werden können.—
Das Gespräch führte Matthias Rehberger, Chefredakteur der GLASWELT.
Vorteile des neuen Modells
- Erstmals wirtschaftliche Bemessung des Randverbunds möglich.
- Die Dicke der Scheiben kann jetzt optimiert bemessen werden.
- Der Nachweis, dass eine Isolierglasscheibe unter hoher Klimalast funktioniert, wird möglich.
- Die Dauerhaftigkeit einer ISO-Einheit kann realistisch beurteilt werden.