Glaswelt – Herr Bastianen, wie schätzen Sie die Entwicklungspotenziale der Branche ein?
Paul Bastianen – Was ich in den letzten Wochen und Monaten auf Messen, wie auf der glasstec in Düsseldorf oder bei vielen Kongressen und Symposien an Neu- und Weiterentwicklungen gesehen habe, ist umfassend und vielversprechend: Viele neue Entwicklungspotentiale betreffen sowohl die Bauwirtschaft allgemein, das Produktdesign, die Bauteil- und Gebäudesteuerung sowie die Maschinen- und Produktionstechnik; weiter werden wir künftig auch andere Vermarktungskonzepte als bisher sehen.
Glaswelt – Zeigen Sie doch einige Beispiele aus den verschiedenen Einsatzfeldern auf.
Bastianen – Die Multifunktionalität in Fassade und Fenster wird deutlich zunehmen. Immer mehr (Neu-)Bauten werden ihre Energie künftig über fassadenintegrierte PV-Module oder PV-Module in Fenstern- und Fensterbrüstungen selbst produzieren. Diese Module sind wiederum an die Gebäudesteuerung angebunden und werden weitere Funktionen, wie den Sonnenschutz, mit übernehmen. Solche Energie autarken Gebäude (und Fassaden) werden wiederum andere Vermarktungsstrategien erfordern als die bisher üblichen Bauten und Systeme.
Weiter werden wir immer mehr digitale Produkte erhalten: An erster Stelle denke ich an schaltbare Gläser mit veränderlichem g-Wert. Diese wiederum werden den Sonnen- und Schichtschutz im Gebäude prägen und neue Fassadendesigns erlauben. Auch erwarte ich einen Schub bei selbstleuchtenden Gläsern, die die Tageslichtfunktion in Kellerräumen etc. übernehmen können. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Produkte müssen gleichzeitig die Glasverarbeiter, ebenso wie Fenster- und Fassadenbauer, neue Wege bei der Vermarktung einschlagen. Solche Spezialprodukte werden nicht als Massenware verkauft werden können. Weiter müssen sich die Verarbeiter auch darauf einstellen, dass die Vermarktung via Internet deutlich zunehmen wird. Das gilt immer mehr auch für B-to-B-Produkte.
Glaswelt – Was bedeuten komplexere Produkte für die Zusammenarbeit der Marktplayer?
Bastianen – Zuerst bedeutet es eine intensivierte Kommunikation aller Beteiligten in Sachen Fertigung, aber auch bei der Vermarktung. Hier sollten Glasverarbeiter mit Fenster- und Fassadenbauern an einem Strang ziehen und gemeinsame Informations- und Verkaufsstrategien entwickeln. Das wird auch für die Kundenakzeptanz und den Markterfolg unumgänglich sein.
Und auch in der Produktentwicklung müssen die Branchen Glas, Fassade, Fenster und Sonnenschutz künftig enger zusammenrücken, um bessere, intelligente Fenster (Smart Windows) zu entwerfen sowie neue Funktionen in die Fassade zu integrieren. Denken Sie an die Fahrzeugindustrie: Wenn ein Autohersteller ein neues Konzept entwickelt, denken alle Zulieferer mit.
Glaswelt – Welche Rolle wird die digitale Vernetzung – sprich Industrie 4.0 – spielen?
Bastianen – Industrie 4.0 wird mehr als nur die Produktion von Gütern beeinflussen, wir stehen aktuell vor der umfassenden Digitalisierung unseres Lebens, was zu sehr großen gesellschaftliche Umwälzungen führen wird. Dazu ein Beispiel: In der Tesla-Autofabrik gibt heute bereits außer einigen Servicetechnikern keine Arbeiter mehr, denn Roboter und intelligente Maschinen fertigen die Elektroautos.
Glaswelt – Welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund der 3D-Druck für unsere Branche?
Bastianen – Hier wird der 3D-Drucker zur Fertigung von komplexen Bauteilen sowie für Beschläge zum Einsatz kommen. Weiter lassen sich damit auch vielfach Ersatzteile drucken, was wiederum den klassischen Handel stark verändern wird. Ich könnte mir vorstellen, dass Verarbeitungsbetriebe über 3D-Drucker verfügen und dann einfach die Konstruktionsdetails anfordern, wenn ein Produkt/Ersatzteil nachgeliefert werden muss. Das Bauunternehmen wird so quasi zum Hightech-Anbieter.
Glaswelt – Sehen Sie auch Hemmnisse bei dieser Entwicklung?
Bastianen – Ja, und zwar mit Sorge. An der Digitalisierung wird die Glas- und Fensterbranche in Deutschland über kurz oder lang nicht vorbeikommen, wenn sie überleben will. Gerade in der Glasbranche gab es in den letzten Jahren einen starken Preisverfall und die Fensterhersteller leiden unter Billigimporten. Beides ist schlecht für den Umsatz und hat die Margen weiter gesenkt. Und genau dieses Geld fehlt jetzt vielen Verarbeitern, um einerseits in die Ausrüstung und Software für eine 4.0-Vernetzung zu investieren und andererseits in neue Produkte und die notwendige Produktentwicklung. Leider sehe ich hier die Gefahr, dass viele kleine und mittlere Betriebe von der Digitalisierung überrollt werden. —
Die Fragen stellte Matthias Rehberger