Bereits 1981 stellt Mike Davies das bislang unerreichte Konzept einer polyvalenten Wand als Vision einer adaptiven, multifunktionalen Fassade vor. Über das Zusammenspiel verschiedener Funktionsschichten zwischen zwei Glastafeln passt sich die Verglasung regulierend den Bedürfnissen an. Heute ist Glas in der Gebäudehülle ein elementarer Bestandteil und steht für Transparenz und Leichtigkeit.
In Anlehnung an das Konzept der polyvalenten Wand lassen sich die Anforderungen heutiger Fassaden in Brand-, Schall-, Sonnen- und Wärmeschutz sowie Energie, Gestaltung, Medien und Sicherheit unterteilen. Die aus der Transparenz der Gebäudehülle resultierenden Verglasungen führen zu großformatigen Abmessungen mit erhöhten Anforderungen, vor allem im Bereich des Wärme- und Schallschutzes, aber auch der Sicherheit, die häufig nur noch Verbundsicherheitsgläser erfüllen. Dies ergibt zunehmend dickere Querschnitte mit hohen Eigenlasten. Verbundtafeln aus unterschiedlichen, transparenten Materialien ermöglichen dazu eine Optimierung hinsichtlich der gewünschten Eigenschaften. Laminate aus Dünnglas mit Polycarbonat stellen hier eine interssante Alternative dar.
Cleverer Verbund aus Dünnglas und Polycarbonat
Die kontinuierliche Entwicklung in der Herstellung von Dünnglas schafft die Voraussetzungen für zusätzliche Einsatzgebiete über die ursprüngliche Verwendung als Sonderglas für Medizin und Elektrotechnik hinaus.
Neben der günstigen Eigenschaft einer hohen Oberflächenhärte bietet Dünnglas auch ein niedriges Flächengewicht. Häufig wird die charakteristische Festigkeit durch eine Vorspannung, bei der die Glasoberfläche unter Druckspannung steht, erhöht. Allerdings ergibt sich durch die dünnen Nenndicken nur eine geringe geometrische Steifigkeit, die bei einer Anwendung als biegebeanspruchtes Bauteil zu sehr hohen Verformungen führt.
Eine mögliche Reduktion der hohen Verformungen besteht in dem Verbund mit Polycarbonattafeln. Mit baurelevanten Abmessungen führt das Laminat aus dem sprödem Dünnglas mit dem duktilen Polycarbonat, beispielsweise zu innovativen Verbundtafeln im Bereich der Sicherheit. Als Thermoplast weist Polycarbonat eine hohe Schlagzähigkeit, ein niedrigeres Flächengewicht sowie eine hohe Transparenz auf, aber auch eine hohe Kratzempfindlichkeit und eine Unbeständigkeit gegenüber ultravioletter Strahlung.
Diese Nachteile können durch äußere Dünngläser sowie einer verbindenden Zwischenschicht mit entsprechenden UV-Blockern kompensiert werden. Eine Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafel besteht deshalb aus zwei äußeren Dünnglastafeln und mindestens einer inneren Polycarbonattafel, die über eine polymere Zwischenschicht aus einem thermoplastischen Polyurethan laminiert sind (Bild (01).
Resttragfähigkeit ist gegeben
Als Alternative zu konventionellem Verbundsicherheitsglas sind die Anforderungen an die passive Sicherheit nach Glasbruch, wie beispielsweise die Resttragfähigkeit, die Begrenzung von Öffnungen und die Vermeidung von Schnittverletzungen durch Splitterbindung, einzuhalten.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt für Verbundsicherheitsglas ist der Nachweis für die Anforderungen an die klimatische Beständigkeit der Zwischenschicht, die bei hoher Temperatur, in der Feuchte und unter Bestrahlung nachgewiesen werden. Die Prüfung des Verbunds für die mechanische Beständigkeit erfolgt mit dem Kugelfall- sowie dem Pendelschlagversuch.
Sicherheitssonderverglasungen, auch angriffhemmende Verglasungen genannt, setzen mit den zusätzlichen Anforderungen an die aktive Sicherheit dem gewaltsamen Einwirken einen bestimmten Widerstand mit dem Ziel der Verhinderung des unerlaubten Angriffs entgegen. Die Sicherheitssonderverglasungen werden in Widerstand gegen manuellen Angriff, gegen Durchschuss oder gegen Sprengwirkung unterschieden.
So wirken Tragverhalten und Schubverbund gemeinsam
In Anlehnung an den Vierpunkt-Biegezugversuch zur Bestimmung der Festigkeit von Flachglas werden die Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafeln hinsichtlich des Schubverbunds untersucht. Dadurch ergeben sich Rückschlüsse auf das Trag- und Resttragverhalten sowie auf die Schubübertragung des Laminats.
Die Betrachtung des Tragverhaltens im intakten Zustand und des Resttragverhaltens im planmäßig zerstörten Zustand der Dünngläser verdeutlichen einen teilweisen Schubverbund innerhalb der Verbundtafel. Dazu werden neben der Verformung in Plattenmitte und der Belastung auch an jeder Grenzfläche die Dehnungen in Längs- und Querrichtung gemessen und hinsichtlich Tragverhalten und Spannungsverlauf untersucht (Bild 02).
Mit steigender Nenndicke der Polycarbonattafel vermindert sich die Beteiligung der äußeren Dünnglastafeln an der Lastabtragung. Im planmäßig zerstörten Zustand beider Dünngläser zeigt das Laminat mit einem dickeren Dünnglas ein günstigeres Resttragverhalten im Vergleich zum dünneren Glas.
Allerdings treten bei geringen Lasten bereits hohe Verformungen auf. Die Verbundtafeln eignen sich deshalb als Vertikalverglasung mit hohen Zusatzanforderungen an die Sicherheit, wie beispielsweise als absturzsichernde Verglasung sowie vor allem als angriffhemmende Verglasung. Einsatzgebiete von Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafel mit hohem Widerstand gegen manuellen Angriff sind z.B. öffentliche Bauten oder Botschaften.
Der nachträgliche Einbau der Sicherheitssonderverglasung erfüllt die hohen Anforderungen und passt sich mit der niedrigen Eigenlast und dem geringen Querschnitt den gegebenen Randbedingungen des Bestandsgebäudes optimal an.
Verbesserte Eigenschaften
Die Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafeln weisen bereits als Einfachglas günstigere Eigenschaften als eine herkömmliche Sicherheitssonderverglasung mit gleicher Widerstandsklasse auf. In dem folgenden Diagramm von Bild 03 werden die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafeln mit aktuell am Markt erhältlichen Sicherheitssonderverglasungen aus Glas-Polycarbonat-Verbund und aus Glas-Verbund mit der höchsten Widerstandsklasse P8B gegen manuellen Angriff verglichen.
Die Verwendung von Dünnglas ermöglicht gegenüber einem Glas-Verbund eine Reduktion der Nenndicke um 45 % von 36 mm auf 20 mm sowie der Eigenlast um 65 % von 80 kg/m2 auf 28 kg/m2.
Die Messung des Luftschalldämm-Maßes zeigt, dass sich trotz der geringeren Eigenlast der Kennwert lediglich um 1 dB verringert. Das innenliegende Polycarbonat weist eine um den Faktor 5 geringere Wärmeleitfähigkeit als Glas auf. Dadurch verbessert sich der Wärmedurchgangskoeffizient im Vergleich zu herkömmlichen angriffhemmenden Verglasungen.
Eine Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafel als Sicherheitssonderverglasung mit der höchsten Widerstandsklasse P8B gegen manuellen Angriff bietet dadurch bereits als Einfachglas eine Alternative, beispielsweise für den nachträglichen Einbau in Bestandsgebäude bei reduzierter Nenndicke und geringerer Eigenlast.
Die Weiterverarbeitung von Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafeln zu einem Mehrscheiben-Isolierglas ist naheliegend und führt zusätzlich zu einer Verbesserung der Eigenschaften bezüglich Wärme- und Schallschutz.
Im Teil 02 des Beitrags wird das neue, leichte Isolierglas der Forschergruppe vorgestellt.
Die Autoren
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thorsten Weimar, M.Sc. Sebastián Andrés López, beide Lehrstuhl für Tragkonstruktion, Universität Siegen www.architektur.uni-siegen.de/tragkonstruktion
Das Projekt: Das Forschungsprojekt wurde am Lehrstuhl für Tragkonstruktion der Universität Siegen mit der Silatec Sicherheits- und Laminatglastechnik GmbH (www.sicherheitsglas.de) durchgeführt.
Die finanzielle Förderung erfolgte durch die ‚Zukunft Bau Forschungsförderung‘, betreut durch das BBSR. www.bbsr.bund.de