Von 2000 bis 2002 entsteht in zentraler Lage ein Erweiterungsbau für die Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) mit flankierender Mantelbebauung (Bild 1). Die als Lochfassade konzipierte Gebäudehülle aus Stahlbeton erhält eine dunkelblau kaschierte Wärmedämmung, deren Befestigungen aus Edelstahl als gestalterische Elemente sichtbar sind. Davor befindet sich in ca. 20 mm Abstand eine an den Scheibenunter- und Oberkanten linienförmig gelagerte, fast 10 000 m² umfassende Fassadenbekleidung aus ESG. Diese besteht überwiegend aus 8 und 10 mm dicken ESGElementen, die zur Hinterlüftung durch vertikale Fugen von ca. 10 mm getrennt sind.
Schadensverlauf und -ursache
Schon wenige Wochen nach der Eröffnung kommt es am Neubau und einem weiteren Bauwerk mit identischer Fassade zu ersten Schäden bei den Bekleidungen. Einzelne Scheiben zerbersten, ohne das ein äußerer Einfluss festzustellen wäre. Insgesamt summiert sich bis heute die Anzahl der Schäden auf über ein Dutzend Fälle. Zur Absicherung, der von Studenten stark frequentierten Flächen rund um das Gebäude ist es notwendig, Schutzgerüste mit aufliegenden Abdeckungen in Erdgeschosshöhe aufzustellen. Während der mehrjährigen Klärung um Ursachen und Kostenübernahme beeinträchtigen sie die Nutzung und Ansicht des Gebäudes stark. Die Bauherrin, die Hamburger Behörde für Wissenschaft und Forschung (BwF), und der ausführende Fassadenbauer geben gemeinsam ein Gutachten an der TU Hamburg-Harburg in Auftrag, um die Ursachen für die Schäden am Glas zu ermitteln. Das Ergebnis: Die Schäden entstanden durch NiS-Einschlüsse (Glasbruch) sowie infolge von zu geringen Einständen in die Glashalterungen, was zum Absturz von Scheiben führte. Den Mangel der zu geringen Scheibeneinstände, der an der Fassadenfläche einen Anteil unter 10 Prozent ausmachen soll, behebt die Fassadenbaufirma während der Gewährleistungspflicht. In den vergangenen gut sechs Jahren hat die visuelle Qualität des Bauwerkes stark gelitten. So beeinträchtigen Wasserfahnen auf der dunkelblau kaschierten Wärmedämmung hinter der Glasbekleidung den optischen Eindruck. Sie entstehen, weil der Wind das Regenwasser durch die vertikalen Fugen drückt, das dann über die nächst untere horizontale Glashalterung wieder nach außen fließt. Zudem bleicht die Kaschierung unterschiedlich aus und beginnt sich stellenweise vom Dämmstoffträger zu lösen. Auch hinterlassen Rußund Staubpartikel der umliegenden Verkehrsknotenpunkte sowie Insekten (speziell hinter den Scheiben) schwer zu beseitigende Spuren. Auf Anfrage, ob bei der anstehenden Behebung des Glasschadens auch die Ausbesserung der Dämmelemente vorgenommen wird, erklärt die BwF, das künftig nur die Personengefährdung ausgeschlossen werden solle. Weiter wolle man nichts unternehmen. Ob diese Sanierungsvariante ausreicht, kann nur der Bauherr unter Beachtung seiner Ressourcen entscheiden. Hier sei angemerkt, dass es unvermeidlich erscheint, in wenigen Jahren die Gläser erneut komplett zur Erneuerung der Kaschierung zu demontieren.
Baurechtliche Einordnung
Die Fassadenausführung ist baurechtlich als hinterlüftete Außenwandbekleidung nach DIN 18516-4 einzuordnen [1]. Seit Februar 1990 ist damit die Verwendung von heißgelagertem ESG durch die DIN vorgeschrieben. Der geforderte Heat-Soak-Test (HST) muss bescheinigt werden, er kann aber, wie einige teils spektakuläre Schadensfälle nach Erscheinen der Norm belegen, das Spontanbruchrisiko durch NiS-Einschluss nicht ausreichend verhindern. Erst in der Ausgabe 2002/1 der Bauregelliste A wird ESG-H als heißgelagertes ESG-Produkt eingeführt. In der Anlage 11.4 sind zu seiner Herstellung zusätzlich besondere Bestimmungen enthalten.Seit 2003 wird bei den Sekurit-Partnern der HST durch einen fälschungssicheren Stempel, d.h. einen Punkt im Glas, der sich beim Test verfärbt, nachgewiesen. Der vorgeschriebene verbesserte HST senkt nach DIN EN 14179 das Risiko von Spontanbrüchen zwar fast gegen Null, es bleibt jedoch ein Restbruchrisiko bestehen, das bei etwa einem Bruch auf 400 t heißgelagertem ESG liegt. Bei einer Scheibendicke von 8 mm wäre es im vorliegenden Fall auf 20 000 m² ESG-H somit statistisch gesehen nur zu einem Scheibenbruch gekommen [2]. Aber trotz dieser relativ geringen Wahrscheinlichkeit ist Vorsicht geboten, denn es gibt hierzu einen gerichtlichen Präzedenzfall: Angesichts des verbleibenden Restrisikos von Spontanbrüchen geht das OLG Stuttgart in einem Urteil vom 16. 05. 2007 (AZ: 4 U 23/07) von einer nicht mangelfreien Ausführung aus und führt eine Hinweispflicht des Auftragnehmers an den Bauherren ein [3]. Somit ist doppelte Vorsicht geboten!
Besonderheiten des Schadenfalls
Die Herstellung des durch Heißlagerung getesteten ESG nach DIN 18516-4 entspricht zum Zeitpunkt des Einbaus im Jahre 2001 dem Stand der Technik. Der Einbau liegt jedoch kurz vor der Einführung von ESG-H in die Bauregelliste A. Da neue Normen und Richtlinien nicht über Nacht entstehen, hätten alle Beteiligten am besagten Bauvorhaben über die bevorstehende Einführung wissen müssen, und bereits entsprechende Maßnahmen ergreifen können, auch wenn diese noch nicht verpflichtend waren. Die Zusatzkosten für die Durchführung des verschärften Heat- Soak-Tests hätten sich mehr als ausgezahlt. Die fehlerhaften Scheiben wären schnell entdeckt und ersetzt worden, der Schaden wäre nicht in dieser Form am Gebäude aufgetreten. Zur Sanierung verwendet wird jetzt heißgelagertes ESG nach Bauregelliste A, Teil 1, Lfd. Nr. 11.13 und Anlage 11.11 (Ausgabe 2008/1) unter Verwendung von ESG nach EN 12150-2 [4]. Eine weitere Besonderheit ergibt die Klärung der Kostenübernahme. Das Bauwerk der HAW entsteht als eines der ersten Hochschulgebäude in Public-Private-Partnership (PPP) und wird schlüsselfertig von einem Investor als Generalübernehmer erstellt. Nach Angaben der BwF übernimmt die Behörde als Bauherr selber den hohen sechsstelligen Betrag, da der Generalunternehmer nach den gültigen Normen und Regeln gearbeitet habe. Abhängig von der Vertragsgestaltung haftet im Normalfall der Bauträger für „technologische Risiken“, die auch durch baurechtliche Bestimmungen eintreten können.
Bewertung und Ausblick
Trotz enger Kalkulation, wie sie heute gefordert wird, belaufen sich im Schadensfall die Kosten für den Fassadenbauer oft auf ein Vielfaches der vermeintlichen Einsparung. Dies sollte man bei der Kostenkalkulation immer berücksichtigen. Es bleibt unklar, warum bei der Fassadenerstellung des HAW-Gebäudes weder Bauherr noch Generalunternehmer sich bereits nach der neuen Regelung orientiert haben, die ja direkt vor der Einführung stand. Zudem war bereits eine Reihe von Schäden bei Fassaden der vorliegenden Ausführungsvariante bekannt. Im vorgestellten Fall hätten die Aufnahme von ESG-H in die Bauregelliste A und die neuen Bedingungen zur Herstellung von heißgelagertem ESG bekannt sein müssen und angewendet werden sollen. Der Fassadenbauer, der für die zu geringen Scheibeneinstände verantwortlich ist, hätte durch rechtzeitig eingeleitete, geeignete Maßnahmen zudem Schäden verhindern können. Es stellt sich die Frage, warum solche Fehler überhaupt erst aufgetreten sind. Im Vorfeld eines großen Bauvorhabens, hier zweimal rund 10 000 m² Fassadenfläche, macht es Sinn, 1 : 1 Probeelemente zu erstellen, um alle vorkommenden Bau-/Einbausituationen zu simulieren. Zudem hätte der Fassadenbauer nach Einbau der ersten Scheiben den Fehler entdecken müssen, der ihm hohe Kosten zur Nachbesserung verursacht hat. Normen und Technische Regeln stellen nicht zwingend den Stand der Technik dar. Sie können diesem vorauseilen oder ihm nachstehen. Stehen Regeländerungen bevor, sollte der Verarbeiter sein Augenmerk darauf richten, um auch künftig auf der sicheren Seite sein, und so manchmal Regeln umsetzen, die heute noch nicht bindend sind. —
Literatur
[1] DIN 18516-4 : 1990-02: Außenwandbekleidungen, hinterlüftet, Teil 4: Einscheiben-Sicherheitsglas.
[2] DIN EN 14179-1 : 2005-09: Glas im Bauwesen – Heißgelagertes thermisch vorgespanntes Kalknatron-Einscheibensicherheitsglas, Teil 1: Definition und Beschreibung.
[3] Vgl.: Böttcher, Wolfgang: Vorsicht Falle, GLASWELT, 60. Jg. (06/2008), S. 57.
[4] DIN EN 12150-2 : 2005-01: Glas im Bauwesen – Thermisch vorgespanntes Kalknatron-Einscheibensicherheitsglas, Teil 2: Konformitätsbewertung/Produktnorm.
Aktuelle Normen und Regelwerke für ESG-H
Normen/Regeln zur Zeit der Bauausführung:
DIN 18516-1 : 1999-12: Hinterlüftete Außenwandbekleidungen, hinterlüftet: Anforderungen, Prüfgrundsätze
DIN 18516-4 : 1990-02: Hinterlüftete Außenwandbekleidungen aus ESG. Heißlagerungsprüfung für alle ESG-Scheiben gefordert
TRLV : 1998-09: Technische Regeln für die Verwendung von linienförmig gelagerten Verglasungen
Normen/Regeln direkt nach der Ausführung:
wie oben, jedoch neu: heißgelagertes ESG (ESG-H) nach Bauregelliste A, Teil 1, Lfd. Nr. 11.4.2 und Anlage 11.4 (Ausgabe 2002/1)
Normen/Regeln nach aktuellem Stand:
Heißgelagertes Kalknatron- Einscheibensicherheitsglas (ESG-H) nach Bauregelliste A, Teil 1, Lfd. Nr. 11.13 und Anlage 11.11 (Ausgabe 2008/1), unter Verwendung von Produkten nach EN 12150-2:2005-01: Thermisch vorgespanntes Kalknatron- Einscheibensicherheitsglas – Teil 2: Konformitätsbewertung/Produktnorm.
Der Autor
Jens Baumgartner ist als freier technischer Publizist mit Schwerpunkt Glasbau tätig.