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Rechtstipps zu ESG und ESG-H

“ESG ist ein geregeltes Bauprodukt“

GLASWELT: Herr Niemöller, sollte man ESG heute besser nicht mehr verwenden?

Niemöller: Die in der jüngeren Vergangenheit ergangenen Urteile können den Eindruck er­wecken, dass das Produkt in seiner Verwendbarkeit problematisch ist. Zu bedenken ist, dass Schadensfälle aufgrund von Spontanbrüchen bei ESG-Scheiben meist große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregen, gerade wenn Hochhausfassaden betroffen sind. Unabhängig von der juristischen Beurteilung liegt damit auch für die Öffentlichkeit das Argument nahe, dass spontan brechende ESG-Scheiben den Anforderungen des Marktes nicht gerecht werden. Das stimmt aber nicht. So ist ESG nach wie vor ein in der Bauregelliste verankertes Bauprodukt, das grundsätzlich auch nach den öffentlich-rechtlichen Baubestimmungen verwendet werden darf, wenn es in seinem Herstellungsverfahren entsprechend den in der Bauregelliste zugeordneten technischen Regeln produziert wurde.

GLASWELT: Wenn der Verarbeiter ESG bei Fenstern und Fassaden sowie im Interieur einsetzen möchte, worauf muss er dann achten?

Niemöller: Zum einen gilt es, den Zulieferer für das ESG-Scheibenprodukt sorgfältig auszuwählen und nur Gläser zu verwenden, die dann tatsächlich nach den aktuell bestehenden normativen Festlegungen zum Produktionsprozess hergestellt sind. Dabei sollte sich der Verarbeiter darüber bewusst sein, dass er den Endkunden über das in Fachkreisen seit langem bekannte Phänomen einer Spontanbruchgefahr aufgrund von Nickelsulfideinschlüssen aufklären muss. Auch der Kunde muss zu einer sachgerechten Einschätzung der Verwendungsrisiken in der Lage sein.

GLASWELT: Und was sollte der Verarbeiter unterlassen?

Niemöller: Der Verarbeiter sollte nicht versuchen, eine notwendige Aufklärung des Kunden zu möglichen Spontanbruchrisiken im „Kleingedruckten“ seiner Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterzubringen. Notwendig ist es, individuell den jeweiligen Kunden aufzuklären und dessen Ausführungsentscheidung in Kenntnis der Produktrisiken zu erbitten. Ausdrücklich warne ich davor, die Kommunikation auf einen vom Kunden beauftragten Architekten und/oder Projektsteuerer/Projektmanager zu beschränken. Bewusst akzeptierte Risiken können zu einer wirksamen Verlagerung des Spontanbruchrisikos führen; dieses Bewusstsein muss der Verarbeiter beim Kunden schaffen und diesen Kommunikationsvorgang ggf. auch nachweisen können.

GLASWELT: Wie genau muss man den Bauherrn bzw. den Architekten über das ESG-Spontanbruchrisiko aufklären, und wann?

Niemöller: Dem Kunden muss – nach Möglichkeit schon bei der Angebotsabgabe – deutlich erklärt werden, dass das Problem des Spontanbruchs auch durch moderne Fertigungs- und Testverfahren nach dem aktuellen Produktionsstandard zwar reduziert, aber nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Begriffe wie „Restrisiko“ sollten nicht den Blick darauf verstellen, dass es sich de facto immer noch um ein „Risiko“ handelt. Nur dann, wenn der Kunde ein ihm bekanntes Risiko akzeptiert, kann man erwarten, dass er dieses Risiko auch zu tragen bereit und rechtlich verpflichtet ist. Die erforderliche Beratungsleistung des Verarbeiters sollte sich auch auf die Aufklärung zu den möglichen Risikofolgen und Auswirkungen erstrecken und möglichst frühzeitig erfolgen, um nicht als Pflichtverletzung in der Vertragsanbahnungsphase wiederum dem Verarbeiter angelastet zu werden.

GLASWELT: Was muss der Verarbeiter beachten, wenn der Auftraggeber ausdrücklich ESG verlangt, wie sieht dann die Rechtslage aus?

Niemöller: Verlangt der Auftraggeber in Kenntnis der aufgeklärten Risiken und ihrer potenziellen Folgen ESG, muss der Verarbeiter dennoch klären, ob die Ausführung mit diesem Produkt den bauordnungsrechtlichen Vorgaben (der Baugenehmigung) entspricht. Ist dies der Fall und war die Aufklärung zutreffend und ist mit der Ausführung kein abstraktes Gefährdungsrisiko für Dritte verbunden, kann der Verarbeiter (vorbehaltlich baugenehmigungsrechtlicher Einschränkungen/Zustimmungserfordernisse für den Einzelfall) die Ausführung in Angriff nehmen.

GLASWELT: ESG-H minimiert das NiS-Spontanbruchrisiko, sollte man dieses Sicherheitsglas immer als Alternative vorschlagen?

Niemöller: In bestimmten Einsatzbereichen ist nach den technischen Regeln nur heißgelagertes ESG-H zulässig, etwa bei Vertikalverglasungen ab 4 m Einbauhöhe gemäß TRLV. Auch hier ist das Spontanbruchrisiko nicht gleich Null, sondern nur reduziert. Die Beratungs- und Aufklärungspflicht des Verarbeiters besteht hier also ebenfalls.

GLASWELT: Welche Nachweise muss der Fenster- oder der Fassadenbauer liefern, um zu belegen, dass ESG-H verwendet wurde, und von wem bekommt er sie?

Niemöller: Der Verarbeiter muss schon im eigenen Interesse darauf achten, sich mit jeder Glaslieferung aussagekräftige Werksbescheinigungen vorlegen zu lassen. Diese müssen anhand der Bestell- und Lieferdaten eine Zuordnung zu einer bestimmten Charge ermöglichen. Zudem müssen die Bescheinigungen eine Aussage über die Durchführung des Heat-Soak-Tests nach den einschlägigen technischen Regeln enthalten. Die Bescheinigungen erhält der Verarbeiter von seinem Glaslieferanten, der sie vom Hersteller zu beschaffen hat. Besondere Brisanz für den Verarbeiter ergibt sich daraus, dass er Mängel der Lieferung gegenüber seinem Lieferanten regelmäßig unverzüglich zu rügen hat, also spätestens innerhalb von ca. zwei Werktagen. Anderenfalls kann er später keine Ansprüche gegen den Lieferanten geltend machen. Die Rügepflicht gilt auch in Bezug auf nicht ordnungsgemäße Werksbescheinigungen, die folglich bei jeder Glaslieferung auf Vollständigkeit und Korrektheit kontrolliert werden müssen. Dies stellt eine echte Herausforderung an das Qualitätsmanagement des Verarbeiters dar.

GLASWELT: Muss heißgelagertes Sicherheitsglas auf der Scheibe gekennzeichnet sein?

Niemöller: Eine im Einbauzustand sichtbare Kennzeichnung der Scheiben als ESG-H- bzw. als ESG-Produkt ist in den einschlägigen Normen vorgesehen. Auch auf das Vorhandensein des Stempels muss der Verarbeiter bei der Wareneingangskontrolle achten und etwaige Beanstandungen unverzüglich gegenüber dem Lieferanten rügen.

GLASWELT: Und was passiert, wenn er diese Nachweise nicht erbringen kann?

Niemöller: Ist ein Schadensfall eingetreten, wird der Verarbeiter in die Defensive geraten, wenn er keine lückenlose Dokumentation im oben beschriebenen Sinne vorweisen kann. Vor Gericht kann dies zu einer Umkehr der Beweislast zu seinen Ungunsten führen. Überdies kann der Regress des Verarbeiters gegen den Lieferanten misslingen, wenn keine unverzügliche Mängelrüge nachgewiesen werden kann.

GLASWELT: Wie lange ist die Verjährungsfrist von Mängeln bei ESG und ESG-H?

Niemöller: Die gesetzliche Verjährungsfrist für vertragliche Mängelansprüche bei Bauwerken beträgt fünf Jahre. Dies gilt sowohl für ESG als auch für ESG-H. Ist die VOB/B vereinbart, so gilt eine Frist von nur vier Jahren, sofern nichts anderes ­ vereinbart ist. In der Praxis wird aber meist auf die gesetzliche Frist von fünf Jahren zurückgegriffen. Diese kann gegenüber Verbrauchern nicht abgekürzt werden. In Einzelfällen sind noch deutlich längere Verjährungsfristen denkbar, wenn dem Verarbeiter ein sogenanntes Organisationsverschulden vorgeworfen werden kann, das dazu geführt hat, dass Mängel bis zur Abnahme nicht entdeckt werden. Dem kann der Verarbeiter am besten durch eine sorgfältige Wareneingangskontrolle und Dokumentation vorbeugen. —

Tipp der Redaktion: Lesen Sie mehr Beiträge zum Thema in unserem „ESG-Dossier“. Dieses finden Sie auf glaswelt.de – dort einfach im Suchfeld oben den Webcode 970 eingeben oder im Dossier-Verzeichnis stöbern.

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