Über diese Frage und vor allem über deren Sinn streiten sich die Juristen seit der Einführung der Begriffe im 18. Jahrhundert. Letztendlich sind beides – „Stand der Technik“ und „allgemein anerkannte Regeln der Technik (a.a.R.d.T.)“ – Rechtsbegriffe und gehen den Sachverständigen eigentlich nichts an. Dennoch ist der Sachverständige stetig angehalten, seine technischen Ausführungen mit diesen beiden Begriffen zu definieren.
- § 319 Strafgesetzbuch (StGB): (1) Wer bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues oder eines Abbruchs eines Bauwerkes gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstößt und dadurch Leib und Leben eines anderen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer die Ausübung eines Berufs oder Gewerkes bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Vorhabens, technische Einrichtungen in ein Bauwerk einzubauen oder eingebaute Einrichtungen dieser Art zu ändern, gegen die a.a.R.d.T. verstößt und dadurch Leib und Leben eines anderen gefährdet.
- Die Begriffsherkunft: Grundlage war der Begriff: „Allgemein anerkannte Regeln der Baukunst“ und wurde erstmals im 18. Jahrhundert im preußischen „Allgemeinen Landrecht“ erwähnt.
- Reichsgericht 1910: Eine Erwähnung fand der Begriff auch bereits schon im Reichsgericht: „’Allgemeine anerkannte Regeln der Baukunst` sind auf wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen beruhend, allgemein anerkannte und bewährte technische Regeln, für den Entwurf, für die Ausführung baulicher Anlagen, die von der Fachwelt allgemein anerkannt sind.“
Diese Aussage ist letztendlich die Grundlage mit der ein Bauherr mit der Erfüllung der öffentlichen Vorschriften und den allgemein anerkannten Regeln der Baukunst auch eine Baugenehmigung erhält. Auch in den Landesbauverordnungen wurde diese Begriffsgebung übernommen. Wobei der Begriff Baukunst als technischer Begriff verwendet wird und nicht als künstlerischer, optischer Begriff.
In der Folge wurden Regelwerke zusammengetragen. Das heißt, dass Empfehlungen gegeben wurden, wie in der Praxis etwas auszuführen ist. Aber immer unter dem Gesichtspunkt, dass die Technik sich stetig weiterentwickelt. Daher entstand ein weiterer Begriff: „Stand der Technik“. Dieses baut auf den allgemein anerkannten Regeln der Technik auf. Wobei allerdings immer das Merkmal gilt, „dass sich der Entwicklungsstand schon soweit in Theorie und Praxis durchgesetzt hat, dass er überwiegend vorherrscht“.
Der Begriff „Regeln der Technik“ stellt einen statistischen Begriff dar. Die Regeln werden in einer bestimmten Zeit aufgestellt und behalten somit eine bestimmte Geltungsdauer. Dagegen stellt „Stand der Technik“ einen dynamischen Begriff dar, der sich inhaltlich immer ändert. Also stellt er die Fortschreibung der a.a.R.d.T. dar. Daher unterscheidet das Strafrecht und Zivilrecht immer zwischen diesen beiden Begriffen. —
Neue Serie: Diskurs
Die GLASWELT Redaktion startet mit dieser Seite eine neue Serie: den Diskurs. Hier können Sie, liebe Leser uns ihre aktuelle Fragestellung zu technischen, bauphysikalischen oder rechtlichen Problemen zusenden und wir werden die Fachleute um umfassende Antworten bitten. Den Anfang macht in diesen Monat die Fragestellung nach der Abgrenzung der Begriffe „Stand der Technik“ und „anerkannte Regeln der Technik“, die für Sie Wilfried Berger beantwortet.
Fragen stellen Sie an: glaswelt@glaswelt.de
Ein praktisches Beispiel
Die Skizzen zeigen einen Querschnitt durch einen Fensteranschluss (Sturzanschluss). Links sehen wir, dass die Fensteranschlussfuge im Außenbereich eine Schlagregendichtheit zeigt (rotes X in der Skizze). So schrieb es die VOB seit 1972 (erstes lesen der VOB durch den Autor) vor. Dies stellt die anerkannten Regeln der Technik dar, dass eine solche Fuge schlagregendicht abgedichtet werden muss. Bemerkt hat man dann, dass es mit dieser Technik bauphysikalische Schäden gab. Die Fuge „soff“ ab.
Da die VOB nicht flexibel ist und es über 15 Jahre dauert, bis dort etwas verankert wird, wurde 2000 der „Leitfaden für die Fenstermontage“ ins Leben gerufen. Dabei wurde auf der Schlagregendichtheit aufgebaut. Allerdings zusätzlich noch die Bauphysik mit integriert. Der Begriff „innen dichter wie außen“ war geboren. Somit stellt heute der Anschluss rechts aus der Weiterentwicklung den „Stand der Technik“ dar.
Der Sachverständige
Wilfried Berger ist Schreiner und Bauschadenanalytiker und betreibt in Pfullendorf ein Büro, das Dienstleistungen für Handwerker und Baugeschädigte sowie alle Art von Schadensanalysen anbietet. Auf seiner Homepage sind umfangreiche Informationen über die fachgerechte Montage hinterlegt.