Als Fensterbauer ist man es gewohnt, ständig mit Fensterblick Fassaden und Mauerwerksöffnungen anzuschauen, teilweise unbewusst im raschen Vorbeifahren. Das ist dieser Tage verändert. Der Blick geht aus dem Fenster des Büros oder wechselphasig des HomeOffice heraus. Mit dem Blick gepaart viele Gedanken. Zu sehen ist eine erwachende Natur, zu spüren ein dumpfes Gefühl.
Seit über 10 Jahren bin ich in eine Runde von mittlerweile rund 40 Personen in das Ritual eines „Montagsmails“ integriert. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus einem Führungskräfte-Coaching. Einige kennen sich besser über die Zeit, einige überhaupt nicht – kommen aber alle aus dem gleichen Stall sozusagen. Mit Ihren Texten und Tipps aus allen Windrichtungen der Gesellschaft und Wirtschaft pflegen wir eine gute Kommunikation. Jeder schaut aus seinem Fenster heraus und sendet ca. einmal pro Jahr. Zum ersten Male seit diesen vielen Jahren kam mein eigenes Montagsmail nun verspätet! Dies ist einem Virus zu verdanken, das derzeit die Welt in Atem hält. Und im positiven Sinne hoffentlich danach ein wenig verwandelt. Die Welt vor unseren Fenstern wird eine andere sein.
Wir Fensterbauer produzieren täglich die Rahmen für die Live-Bilder von draußen. Fenster sind und bleiben die sozialphysische Verbindung zwischen den Welten und zwischen Räumen – nicht nur in den Häusern, sondern bis in das Weltall. Das Innen und das Außen prägt derzeit unsere Gesellschaft. Sogar Astronauten durften uns erklären, was Isolation bedeutet. Das Fenster ist nicht nur der Energiemanager in der Wand, sondern das Schaufenster in neue andere, nie zuvor gekannte globale Welten.
In unserem Handwerksunternehmen sind wir „57 souls on board“ und bereiteten zumindest vorsorglich den „shutdown“ vor. Um nun „atmend“ an den unterschiedlichsten Arbeitsplätzen so aktiv zu sein, wie es der Markt hergibt und die Verantwortung erlaubt. Viele Einschnitte, Fragen, Unverständnis – aber auch viel Fürsorge, Engagement, Corpsgeist begleiten mich - und meinen Bruder - in einer persönlich sehr anstrengenden mentalen und belastenden Phase. Der Störfall, die Krise hat unmittelbar Einfluß auf Physis und Psyche. Man macht nichts anderes als das Thema Corona zu bearbeiten, Formulare aus allen Himmelsrichtungen zu bedienen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu kommunizieren. Der Kunde fällt fast aus dem Fensterrahmen. Als Handwerksunternehmer an der Position des Entscheidenden geht derzeit nichts an uns vorbei. Positiv ist die Begleitung und Initiative Vieler hier im Betrieb. Aktuell erlebe ich überwiegend eine Balance aus Vertrauen und Initiative unter uns. Bis auf 2 bis 3 Ausreißer, die aus dem Fenster springen und gehen, glauben wir an unsere Agilität und Stärke. Die wir uns auch wirklich erarbeitet haben und von der wir nun zehren. Wir arbeiten gemeinsam an der Zukunft. Aus dem Fenster gelehnt: Das ist vielleicht das Ergebnis von Familienunternehmen, Philosophie und verlässlichen Werten?
Nicht alle von uns hier können sich in HomeOffices aufhalten, nur rund die Hälfte. Der Aufruf in Presse und Sozialen Medien malte eine schöne neue Welt. Vergessen wir aber nicht die Menschen in den Produktionen und auf den Baustellen! Ich bin froh und stolz, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Seite zu haben, die uns verstehen, unterstützen und gemeinsam die Krise managen.
Etwas oberflächlich ist die Berichterstattung in den lokalen Medien über die Lage am Bau. Es scheint ja fast alles in Butter, die Handwerksfirmen und Bauunternehmen arbeiten weiter. Etwas Abstand halten, etwas Hygiene und durch. Teile der Wirtschaft treiben das Thema „Exit-Strategie“ relativ unsensibel voran. Damit unterstützt man das aus meiner Sicht gute Krisenmanagement der Regierungen nicht. Hier hake ich ein: wir sehen unsere Sorgfaltspflicht anders als die Presselage. Jeder Monteur von uns sowie jeder im Kundendienst hat zu Hause Frau, Kinder, Großeltern, Nachbarn. Es ist damit schwer zumutbar, den normalen Gang zu gehen. Die Kurve der Infizierten steigt derzeit. Das sieht man zwar nicht, wenn man aus dem Fenster schaut, aber die Statistik auf dem Monitor – dem Window des Virtuellen - lügt nicht. Daher ziehen wir uns vorsichtig zurück. Ich habe schon Stimmen gehört, die das seitens der Kunden als wertvoll und gut würdigen. Aber auch Stimmen, die sagen, daß wir dann zukünftig auch nicht mehr kommen bräuchten. Diese Stimmen kommen aber zumeist aus verbarrikadierten Home Offices, aus der Schutzzone. Die anderen können ja den Job machen. Verkehrte Welt.
Bewusst sprach ich am Anfang als zentrale Idee von „Verwandlung“ durch die Corona-Krise. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Pater Anselm Grün. Er sprach bei einer Veranstaltung im November 2019 vor einem Kreis aus Unternehmen und Non-Profit-Organisationen in Würzburg über „Verwandlung“ und zeigte die Unterschiede zur „Veränderung“ auf. Die Werteskala einer Veränderung machte er auch deutlich im Bereich der Unternehmen. Oftmals – so habe ich es verstanden – ist Veränderung nur ein plakatives, ein dem schnellen Zeitgeist angepasstes Verhaltensmuster, Trendgetrieben, Marketingorientiert: „Neu“, „Relaunch“, „Schneller-Höher-Weiter-Besser“. Die Verwandlung aber ist es, die Menschen und Unternehmen voranbringt, Wurzeln schlagen lässt, Quellen nutzt. Pater Anselm sprach im Zusammenhang mit der Verwandlung von Hoffnung, Zuversicht, Emotion und Entwicklung, auch Innovation, die angestoßen wird. Dieser Blick aus dem Fenster über den Horizont hinweg ist wertvoll.
In diesem Sinne wünsche ich, daß in der Zeit „nach C“ eine gewisse Verwandlung Raum greifen wird. In der Gesellschaft, in der Wirtschaft, im Kreise von Familien, Freunden, Nachbarn. Wir sehen derzeit, wie unwichtig viele Dinge sind. Für die Montagsmailer aus meinem Beispiel ist das nichts Neues, gehört Werteorientierung und Leadership dazu.
Ich hoffe, daß auch eine Verwandlung gesät wird, die Populismus und die Kraft an den gesellschaftlichen Rändern zurückdrängt, Weltoffenheit steigert, aber auch Nähe, Heimat und vermeintliche Kleinigkeiten wertiger werden lässt. Auch sage ich offen: die Spaßgesellschaft eindämmt und eine Wertegesellschaft wieder fördert. Etwas philosophisch vielleicht: Geist, Mut und Herz vereint. Oder global: anything-anytime-anywhere könnte – nein: muß! - zu hinterfragen sein. Das aktuelle Modewort der BWL, „purpose“ wird gerade eingeholt von der Realität. So könnte es nach Friday-For-Future eine wirkliche Bewegung geben hin zu neuen Lebensphilosophien, die einer Freien Gesellschaft und einem Ökonomischen Blickwinkel gut zu Gesicht stehen: die Faire Gesellschaft nach „C“ ist eine meiner Visionen vor dem Fenster.
Schön ausgedrückt hat es hier in unserer „GrimmHeimat“ Wilhelm Grimm im Jahr 1854: „Man fühlt in dieser zerstörenden, die Menschen trennenden Zeit, was Treue und herzliche Liebe im Familienleben wert ist.“
Wir stehen mit verschränkten Armen nachdenklich vor einem großen Fenster und schauen heraus in die fragile Welt: Es kann mit der Wirtschaft wieder in Haarnadelkurven nach oben gehen - wenn alle hoffentlich gesund die Krise überstehen – das ist momentan Prio A im Lande D.
Kassel, zu Ostern 2020