Bei der Technik des Glasverformens handelt es sich um eine alte Technik. Im 11. Jahrhundert wurde gar Flachglas mittels des Zylinderstreckverfahrens aus gebogenem Glas hergestellt. Dieses Verfahren wird heute noch für die so genannte Antikglasherstellung, z.B. zur Restaurierung von alten Kirchenfenstern, angewendet. Dazu wird ein Glaspfropfen bei einer Verarbeitungstemperatur von über 500°C durch Drehen und Schwenken zu einem Zylinder geblasen. Nach dem Abkühlen wird der Zylinder in Längsrichtung geschnitten und durch erneutes Erwärmen in einem Streckofen zum Flachglas geglättet. Eine Betrachtung dieses Arbeitsprozesses in umgekehrter Reihenfolge beschreibt im Prinzip den Prozess des Verformens von Flachglas bei hohen Temperaturen. Als Ausgangsprodukt für verformte Gläser dient im Allgemeinen ein ebenes Floatglas, das durch Erwärmung in einem Biegeofen in die gewünschte Form gebracht wird. Das einfachste Prinzip der Glasverformung unter Temperatureinwirkung ist das Einsinken in eine Biegeform aufgrund der Schwerkraft. Durch die hohen Temperaturen bekommt das Glas die notwendige Viskosität, um sich verformen zu können.
Glasverformung und Geometrien
Verformte Gläser können die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sie können als z.B. klassische Standardformen wie Zylinder, Kegel oder Kugelschale hergestellt werden. Die mathematisch geometrischen Beschreibungen für diese Flächen sind relativ einfach und in einschlägigen mathematischen Fachliteraturen zu finden. Frei definierte Formen sind ebenso produzierbar. Die geometrische Beschreibung dieser Freiformflächen ist jedoch nicht so trivial wie jene bei den klassischen Formen. Einen Weg der mathematischen Beschreibung bieten z.B. Bézier-Kurven oder so genannte NURBS (Non-Uniform-Rational-B-Splines). Mit deren Hilfe ist es möglich, die Beziehung der frei verformten Fläche und der ebenen Abwicklung mathematisch darzustellen.
Herstellung von gebogenen Gläsern
Bei der Herstellung gebogener Gläser aus ebenem Floatglas müssen bereits für den ersten Zuschnitt schon die geometrischen Beziehungen zwischen der ebenen Abwicklung und der gewünschten Form berücksichtigt werden. Des Weiteren ist es für den Formenbau wichtig, die genaue Geometrie mathematisch erfassen zu können.
Die Vielzahl an möglichen verformten Glasprodukten kann prinzipiell in vier Kategorien eingeteilt werden. Im Folgenden werden die Produktgruppen jeweils anhand eines Projektes dargestellt.
- Gebogenes Einfachglas
Die erste Produktgruppe sind die Einfachgläser, bei denen nur ein Glas verformt wird. Durch gezielte Temperatureinstellungen können die unterschiedlichsten Formen hergestellt werden. Je höher die Temperatur beim Glasverformen ist, desto geringer kann der Biegeradius des Glases sein. So sind z.B. 90°Kanten mit einem Biegeradius von ca. 20mm möglich.
Ein besonderes Projekt für verformte Einfachgläser stellt ein Schuh aus Glas dar, der in naher Zukunft die Eingangssituation für das Grazer Stadtmuseum darstellen soll. Der Entwurf, der auch auf der Glasstec-Messe zu sehen war, stammt vom Architekturbüro Splitterwerk aus Graz. Durch den Schuh mit einer Länge von ca. 8,0 m, einer Breite von ca. 3,5 m und einer Höhe von ca. 4,0m gelangen die Besucher in das Museum. Der Weg führt durch zwei seitlich im Knöchelbereich angeordnete Türen. Der Fersenbereich zeigt in Richtung Straße und bildet den Windfang. Wegen der klimatischen Bedingungen muss dieser Bereich mit einer Isolierverglasung ausgeführt werden. Der Bereich der Schuhspitze – der sich bereits im Inneren des Museums befindet – ist mit einer Einfachverglasung geplant. Jedes dieser Gläser stellt eine frei verformte Fläche dar.
Zu beachten ist, dass die Abmessungen des Modells im Bild zwar jenen des Schuhs für das Museum entsprechen, das Stahlrohrsystem jedoch symbolisiert lediglich die geplante Glasteilung und soll keine Unterkonstruktion darstellen. Der Entwurf für den Museumsschuh ist freitragend ohne Unterkonstruktion konzipiert.
Einzig die Türen sowie die Isolierverglasung des Windfangs sollen an einer minimalen Stahlkonstruktion befestigt werden. Die Gläser, die eine frei tragende statische Schale bilden, werden nur an den Eckpunkten durch eine spezielle Knotenlösung miteinander verbunden. Durch die gegenseitige Krümmung in den Gläsern ergibt sich eine statisch stabile Gesamtkonstruktion. Für den Fall eines Glasbruches wird eine Kunstharzschicht an der Innenseite des Glases aufgetragen. Dieses Harz bindet im Bruchfall die Glassplitter und garantiert die Resttragfähigkeit.
Die frei tragende Glaskonstruktion wurde mit Hilfe der Finite- Elemente-Methode modelliert, berechnet und bewertet.
- Gebogenes Verbundsicherheitsglas
Ist ein Einfachglas zum Beispiel aus statischen Gründen nicht ausreichend, so können zwei oder mehrere gebogene Gläser mit einer PVB-Folie zu einem Verbundsicherheitsglas (VSG) kombiniert werden. Als Beispiel für eine so extreme Belastung, die ein VSG notwendig macht, kann ein Glastunnel für das Vivarium in Mariahof in Österreich genannt werden. Dieser Glastunnel bietet den Besuchern den Einblick in ein Piranhabecken und hat einen Radius von 2 m und eine Länge von 6m. Die Länge ist in 5 Elemente mit einer Einzellänge von je 1,2m geteilt. In den Fugen wurden die Gläser durch Stahlrippen unterstützt. Durch die Wassertiefe von ca. 3m ergibt sich eine Belastung von 30kN/m² und macht einen Glasaufbau von 4 x 12mm Floatglas notwendig. Mit diesem Aufbau von 4 x 12mm Glas, einer Bogenlänge von ca. 3,6m und einer Elementbreite von 1,2m ergab sich für jedes Glaselement ein sehr hohes Einzelgewicht von etwas mehr als 500kg.
- Gebogenes Isolierglas
Werden durch klimatische Bedingungen Isoliergläser notwendig, so können diese Gläser ebenso gekrümmt hergestellt werden. Ein imposantes Beispiel für gekrümmte Isoliergläser stellt der Hangar „Red Bull“ am Flughafen in Salzburg dar.
Der Hangar hat die Form eines Ellipsoides. Die Tragkonstruktion aus Stahl wurde als Gitterschale mit dreieckigen Feldern entworfen. Das Besondere an dieser Glashülle sind die dreiecksförmigen Isoliergläser, die jeweils auf Kegelflächen geformt wurden. Jedes Dreieck hat eine unterschiedliche geometrische Abmessung der Seitenlänge. Jedes Isolierglas besteht aus drei Glasschichten. Auf der Außenseite ein Einfachglas und innen ein Verbundsicherheitsglas. Jede dieser Schichten der Isolierverglasung musste mit einem unterschiedlichen Biegeradius verformt werden.
- Reliefglas
Bei einer weiteren Steigerung der Temperatur können immer kleinere Radien der Verformung hergestellt werden. Bei diesen Gläsern kommt es infolge der hohen Temperaturen schon zu Materialumlagerungen und daraus resultierenden Dickenunterschieden im Glas. Das Bild oben zeigt ein Beispiel von geformtem und strukturiertem Glas (Reliefglas). Die Querschnittsformen der Gläser sind keine Standardprodukte, sondern werden individuell nach Wunsch des Architekten angefertigt. Um das Bauobjekt einzigartig zu machen, hat der Architekt die Möglichkeit, sein spezielles Design bei den Gläsern zu entwerfen.
Ein realisiertes Beispiel für diese Verglasungsart ist ein Werbeturm in London. Dieser wurde neben der Autobahn, die von London in Richtung Flughafen Heathrow führt, gebaut. Die Grundrissform wird durch ein gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge 6 m gebildet. Mit der Höhe von ca. 30m ragt der Turm weit genug über das Fahrbahnniveau hinaus, um die zwei großen Werbeflächen wirksam zu positionieren. Die Stahlkonstruktion, bestehend aus Stützen, Trägern und Auskreuzungen, befindet sich im Inneren des Turmes, der mit „Reliefglass“ der Firma iglass Maierhofer verkleidet wurde.
Das Glas besitzt einen wellenförmigen Querschnitt mit einer Wellenlänge von 75mm und einer Höhe von 19mm. Die gemessenen Glasdicken am Wellenberg t1 = 9,8mm und im Wellental von t2 = 11,8mm zeigen deutlich die Glasmassenbewegung, die während des Verformungsprozesses aufgetreten ist (siehe Bild).
Die Glaselemente mit einer Breite von ca. 900 und eine Höhe von ca. 2500mm wurden an den vertikalen Kanten in ein Edelstahlprofil eingeklebt. Diese Stahlprofile sind am oberen und unteren Ende punktförmig gelagert. Durch die Gesamtverformung an der Turmspitze von ca. 98mm ergibt sich eine horizontale Differenzverformung von 13mm in jeder horizontalen Fuge zwischen den Glaselementen. Dieser Umstand machte eine spezielle Lagerungstechnik erforderlich. Die großen Verformungen an den Lagerungspunkten konnten mit dem System „Cardano“ von iglass Maierhofer gelöst werden. Mit dieser Lagerungstechnik nach dem Kardangelenkprinzip können sowohl Verschiebungen und Verdrehungen aufgenommen als auch in einer einfachen Weise gesperrt werden.
Wie gezeigt wurde, lassen sich mit verformten Gläsern, ob als Einfach-, Verbundsicherheits-, Isolierglas oder Reliefglas, die unterschiedlichsten architektonischen Formen im modernen Glasbau realisieren. Den Architekten öffnen verformte Gläser dabei ganz neue gestalterische Möglichkeiten in der Fassadengestaltung.|
Autor
Dipl.-Ing. Dr. techn. Jürgen Neugebauer ist Bauingenieur und arbeitete vor seiner Promotion mit Titel „Erhöhung der Resttragfähigkeit von Verbundsicherheitsglas“ als Statiker an einer Vielzahl internationaler Projekte, z.B. am Forumdach des Sonycenter Berlin oder an einer Überdachung des British Museum in London. Nach seiner Promotion an der TU Graz war er bei der Maierhofer Glastechnik GmbH mit Schwerpunkt Produktion von verformten Gläsern beschäftigt. Im Frühjahr 2007 folgte er dem Ruf an die Fachhochschule Joanneum in Graz.