Der Sicherheitswissenschaftler Prof. Dr. Dietrich Ungerer vom Arbeitswissenschaftlichen Institut Bremen erforscht menschliches Verhalten unter Hochstress-Situationen und die baulichen Möglichkeiten, die dazu beitragen können, Flüchtende und Retter besser zu schützen. Wann Panik, und die damit oft verbundene Orientierungslosigkeit, ausgelöst wird und wie man Panikreaktionen mit architektonischen und organisatorischen Mitteln entgegenwirken kann erklärt der renommierte Sicherheitsforscher in folgendem Interview.
Bt: Herr Prof. Ungerer – was weiß die Sicherheitswissenschaft heute über das menschliche Verhalten in Hochstress-Situationen?
Prof. Ungerer: Durch langjährige Beobachtungen, Analysen und Studien können wir heute auf vielfältige und vielschichtige Erkenntnisse zurückgreifen. Große Katastrophen wie der Flugzeugabsturz in Ramstein im Jahre 1988 und der Angriff auf die Twin Towers des World Trade Centers in New York sind für uns aufgrund der umfangreichen filmischen Dokumentation und der Vielzahl an Betroffenen auf Seiten der Opfer und der Retter wichtige Informationsquellen. Bei der Analyse dieser Quellen gehen wir unter anderem so vor, dass wir Verhaltensmuster differenziert herausarbeiten und möglichst viele identifizierte Betroffene zu den Vorfällen befragen.
Bt: Wie gehen Sie bei solchen Katastrophenanalysen vor, und inwiefern sind die Erkenntnisse aus solchen Ausnahmeereignissen auf Katastrophen kleineren Ausmaßes übertragbar?
Prof. Ungerer: Entscheidend ist hier einzig und allein die Hochstress-Situation, in der sich Opfer und Retter mitunter befinden. Unabhängig von dem Ereignis – ob Brand, Explosion, nukleare Katastrophe oder Massenunfall auf der Autobahn – geraten Menschen bei existentiell bedrohlichen Lagen in Panik. Symptome von Panik sind unter anderem chaotische Flucht- und Angriffsreaktionen, Verhaltensstarre, unlogisches Handeln, Kopflosigkeit und blindes Umherlaufen. Hinzu kommen körperliche Symptome wie Schwitzen, Atemnot, Zittern und Herzklopfen. Dabei kann Panik sowohl in einer realen als auch in einer eingebildeten Gefahrenlage entstehen. Ziel unserer Forschungen ist es, einerseits Hinweise auf Panik vermeidende Faktoren zu geben und andererseits die Helfer im Umgang mit Menschen in Panik zu schulen.
Bt: Macht es einen Unterschied, ob sich eine Katastrophe im Freien oder in einem geschlossenen Gebäude abspielt?
Prof. Ungerer: Der Unterschied ist ganz erheblich. Es ist ein Grundmuster des existentiell bedrohten Menschen, in den offenen Raum zu flüchten, also ins Freie und dem Licht entgegen. Steht ihm dieser Weg offen, so reduziert sich damit der Panikanlass erheblich, was die Analysen des Fluchtverhaltens in Ramstein und beim Einsturz des World Trade Centers deutlich beweisen. Im geschlossenen Gebäude hingegen ist das potenzielle Ausmaß der Panik abhängig von der Qualität und Ausstattung der Fluchtwege und von den organisatorischen Maßnahmen zur Evakuierung. Konkret: Räume, die z. B. im Brandfall nicht schnell genug verlassen werden können, enge dunkle Fluchtflure und Fluchttreppenräume, versperrte oder verstellte Fluchttüren – all dies sind Anlässe, panische Reaktionen massiv zu steigern. Wir wissen mittlerweile von zahlreichen Katastrophen, bei denen es vor allem vor und hinter mangelhaften oder versperrten Fluchttüren zu den größten Tragödien gekommen ist. Dunkelheit durch Stromausfall und Verrauchung tragen selbstverständlich auch noch dazu bei, dass sich eine solche Situation zuspitzt. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass unerfahrene, unentschlossene Notfallhelfer ebenso ein Panik verstärkendes Moment darstellen können.
Bt: Positiv ausgedrückt: Welche Möglichkeiten haben Planer und Gebäudebetreiber, ihr Objekt und vor allem dessen Fluchtwege „katastrophengerechter“ auszustatten?
Prof. Ungerer: Helle, breite Flure und Treppenräume, die auf schnellstem Wege gut und vor allem eindeutig gekennzeichnet ins Freie führen, sind sehr wichtige bauliche Faktoren. In diesem Zusammenhang ist der verstärkte Einsatz von großflächigen Brandschutzverglasungen in Trennwänden und Feuerschutzabschlüssen zu begrüßen. Die Fluchtwegkennzeichnung hingegen muss noch viel klarer und eindeutiger werden. Hier darf es keine Alternativen geben, da Alternativen das Gehirn in Stress-Situationen belasten und unter Umständen zu einer Handlungsunfähigkeit führen. Statische Signale und Lichter reichen hier nach meiner Überzeugung nicht aus – wünschenswert wären Notstrom betriebene Lauflichtsysteme, mit denen sich dann sogar das Tempo der Entfluchtung steuern bzw. steigern ließe. Das ist eine kooperative Aufgabe der Techniker und Designer.
Bt: Welche Anforderungen stellen Sie an die Ausbildung und Schulung des gebäudeeigenen Personals und der Feuerwehr?
Prof. Ungerer: Da unser Institut seit Jahren in der Ausbildung der Feuerwehr-Einsatzleitungen tätig ist und wir zahlreiche Gespräche mit diesen Experten geführt haben, sind unsere Anforderungen auch hier eindeutig. Auf beiden Seiten sehe ich die Vertrautheit und das Training als die wichtigsten Stressbewältigungsfaktoren an. Das Hauspersonal muss mit überschaubaren Bereichen intensiv vertraut sein – z. B. sollte es einen „Fluchtweg-Spezialisten“ geben, der im Brandfall eine flüchtende Gruppe durch kommandoartige Befehle ganz schnell in Sicherheit bringen kann. Die Feuerwehr-Einsatzleitung wiederum muss möglichst viele Szenarien durch fortlaufendes Training präsent haben, damit eine Überforderung vermieden wird. Chronische Überforderung, etwa im Rahmen eines 48 oder gar 56 Stunden andauernden Einsatzes, kann nämlich sehr leicht zu ähnlichen mentalen Bedrohungslagen führen, wie sie bei den unmittelbar betroffenen Personen zu beobachten sind. Das kann auch eine Rettungsmannschaft im Extremfall handlungsunfähig machen und Schutzziele vereiteln. Wir brauchen daher „Hilfe für die Helfer“, auch um eine indirekte Traumatisierung abzuwenden. Die beste Hilfe bleibt für mich die intensive Vorbereitung auf solche Ausnahmesituationen – wir brauchen im operativen Brandschutz Routiniers, die selbst auf höchstem Belastungslevel noch einen klaren Kopf bewahren.
Bt: Noch eine abschließende Frage zum baulichen Brandschutz: Brandschutzgläser für Verglasungen der Feuerwiderstandsklasse F reagieren unter Brandbeanspruchung, indem sie ihre Transparenz verlieren. Kann ein solcher optischer Indikator auf einen Brandherd die Arbeit der Feuerwehr unterstützen?
Prof. Ungerer: Alles, was dem Helfer Orientierung bietet, ist sinnvoll. In diesem Falle, wo eine opake Verglasung indiziert, dass jenseits der Trennwand oder Tür eine Verpuffungsgefahr besteht oder mit großer Strahlungshitze zu rechnen ist, reduziert sich ganz klar der „Überrumpelungsfaktor“.
Bei dem Interview handelt es sich um einen Nachdruck aus „BRANDSCHUTZ transparent“, Heft 19, ISSN 1433-2612, Hrsg. Pilkington Deutschland AG.|
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