_ Die Richtlinie ist seit Jahren anerkannt, in der Praxis vielfach bewährt und genießt hohe Akzeptanz. Sie wurde bereits in mehreren Auflagen von Verbänden gemeinsam erarbeitet, die mindestens drei Stufen in der Wertschöpfungs- bzw. Vermarktungskette repräsentieren, also eigentlich durchaus gegensätzliche Interessen bei der Frage haben könnten, was als Mangel zu gelten hat und was nicht. Wir halten es für einen schönen Erfolg, dass diese Verbände sich auf gemeinsame Aussagen einigen konnten.
Die Richtlinie bietet gemeinsame Beurteilungsmaßstäbe für Reklamationsfälle an – sowohl für das Verhältnis zwischen Unternehmen als auch gegenüber dem Endverbraucher. Auch innerhalb der Beziehung zwischen Hersteller und Verarbeiter/Handwerker gilt die Richtlinie natürlich nicht automatisch mit Quasi-Gesetzeskraft. Andererseits kann sie auch in der Beziehung zu Endabnehmern herangezogen werden.
Auf der sicheren Seite, was die Gültigkeit der Richtlinie für den konkreten Einzelfall angeht, ist man dann, wenn sie vertraglich vereinbart wurde (was die herausgebenden Verbände auch immer ausdrücklich empfehlen).
Wird sie vertraglich nicht vereinbart, wird die Frage auftauchen, ob sie beachtet werden muss, da sie als anerkannte Regel der Technik anzusehen ist.
Eine derart eingeführte Richtlinie ist in dieser Hinsicht nicht etwa „weniger wert“ als eine Norm. Eine Norm ist keineswegs automatisch anerkannte Regel der Technik. Andersherum kann eine Richtlinie durchaus zu den anerkannten Regeln der Technik gehören. Für diesen Begriff gibt es keine Legaldefinition; er ist geprägt von Rechtsprechung und Literatur.
Eine anerkannte Regel der Technik liegt nach allgemeiner Auffassung dann vor, wenn sie in der technischen Wissenschaft als theoretisch richtig anerkannt ist, feststeht, sowie durchweg bekannt und aufgrund der praktischen Erfahrung als technisch geeignet, angemessen und notwendig anerkannt ist.
Empfehlung oder anerkannte Regel?
Insbesondere für schriftlich niedergelegte technische Regelwerke besteht die Vermutung der allgemeinen Anerkennung und praktischen Bewährung. Dazu zählen nicht nur Normen, sondern z. B. auch einheitliche technische Baubestimmungen des Deutschen Instituts für Bautechnik sowie Herstellervorschriften und -richtlinien. Auch DIN-Normen sind private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter und können die allgemein anerkannten Regeln der Technik grundsätzlich zwar wiedergeben, aber auch hinter ihnen zurückbleiben.
Einer unserer Anwälte hat hierzu übrigens kürzlich geäußert: Erfahrungsgemäß sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass immer dann, wenn etwas schief gegangen sei, auch der Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik bejaht werde. Es ist insofern also auch sicherer davon auszugehen, dass die „Richtlinie zur Beurteilung der visuellen Qualität von Glas für das Bauwesen“ zu den anerkannten Regeln der Technik gehört.
Der Inhalt der – von 2009 stammenden – Richtlinie wurde gerade weitestgehend in die EN 1279-1 (2018) übernommen, die Produktnorm für Mehrscheiben-Isolierglas, die im Entwurf vorliegt. Zu unserem Bedauern hat der europäische Normenausschuss dabei aber weniger strenge Beurteilungsmaßstäbe vorgesehen (u. a. wurde der Betrachtungsabstand von 1 auf 3 m geändert). Das ist der Grund dafür, warum wir derzeit an einer neuen Richtlinie arbeiten, mit gegenüber der Norm wieder strengeren Kriterien. Eine Norm stellt also nicht unbedingt einen besseren Beurteilungsmaßstab dar als eine Richtlinie! Die Neuauflage der Richtlinie planen unsere Verbände in den nächsten Monaten herauszubringen.
Bei Gerichtsstreitigkeiten wird die Richtlinie häufig herangezogen. Ein großer Teil von Streitigkeiten über Mängel landet aber auch, weil eine außergerichtliche Einigung gefunden werden konnte, erst gar nicht vor Gericht. Auch dazu kann die Richtlinie einen wertvollen Beitrag leisten.
Wenn es dann doch zu einem Prozess kommt, kann es natürlich – wenn sie nicht ausdrücklich vereinbart wurde – auch passieren, dass das Gericht sie im jeweiligen Einzelfall nicht für anwendbar hält, sich also zum Beispiel bei Beurteilungsmaßstäben und -bedingungen nicht an der Richtlinie, sondern an der konkreten Raumnutzung orientiert.
Der Lieferant schuldet nach BGB im Allgemeinen ein mangelfreies Produkt – Streit entzündet sich an der Frage, was als Mangel einzustufen ist und was nicht. Die Richtlinie kann hier wertvolle grundsätzliche Orientierung bieten.
Natürlich ist es auch möglich, höhere Qualitätsansprüche zu vereinbaren, als sie in der Richtlinie beschrieben sind. Dann müssen sich die Vertragspartner die Mühe machen, diese zu formulieren und zu verhandeln, und in der Regel wird der Lieferant die höhere Qualität zu recht auch bezahlt haben wollen. Aufgabe einer solchen Branchenrichtlinie ist es, den „Standardfall“ zu beschreiben. Damit trägt die „Richtlinie zur Beurteilung der visuellen Qualität von Glas für das Bauwesen“ wesentlich zur Rechtssicherheit bei.—