_ Das aktuelle Hin und Her um den Einsatz von Sicherheitsglas gründet sich u. a. darauf, dass es der Gesetzgeber unterlassen hat, eine eindeutige Bewertung in der Bauordnung vorzunehmen. Dies ist nicht glücklich, da so Graubereiche entstehen, bis es zu einer gerichtlichen Klärung kommt. Wer aber Vorschriften nicht beachtet oder eigenständig auslegt, übernimmt also erhebliche Haftungsrisiken.
In diesem Zusammenhang wird häufig gegen den Einsatz von Sicherheitsglas so argumentiert, dass bisher nur wenige Fälle bekannt seien, bei denen Menschen aufgrund fehlender Sicherheitsgläser zu Schaden kamen. Die Argumentation, aus einem bisher nicht aufgetretenen Glasbruch (bzw. Unfall) darauf zu schließen, dass dies auch in Zukunft so sein werde, teilen die Gerichte wohl nicht, wie am folgenden Brandschutz-Beispiel deutlich wird. Dazu das Oberverwaltungsgericht Münster (im Urteil 10A 363/86 vom 11.12.1987): „Es entspricht der Lebenserfahrung, dass mit der Entstehung eines Brandes praktisch jederzeit gerechnet werden muss. Der Umstand, dass in vielen Gebäuden jahrzehntelang kein Brand ausbricht, beweist nicht, dass keine Gefahr besteht, sondern stellt für die Betroffenen einen Glücksfall dar, mit dessen Ende jederzeit gerechnet werden muss.“
Es wäre doch merkwürdig, wenn dies nur für den Brandfall gelten sollte.
Anforderungen aus der Musterbauordnung (MBO)
Zu Anforderungen bzgl. Sicherheitsglas hier ein Auszug aus § 37 Abs. 2 MBO: „Glastüren und andere Glasflächen, die bis zum Fußboden allgemein zugänglicher Verkehrsflächen herabreichen, sind zu kennzeichnen, dass sie leicht erkannt werden können. Weitere Schutzmaßnahmen sind für größere Glasflächen vorzusehen, wenn dies die Verkehrssicherheit erfordert.“
Der erste Satz bezieht sich nur auf eine Kennzeichnung, die leider sehr oft nicht ausgeführt wird. Dem Wort „allgemein“ wird in vielen Auslegungen eine wesentliche, wohl aber nicht gerechtfertigte Bedeutung gegeben.
Denn worin unterscheiden sich allgemein zugängliche Verkehrsflächen von nicht allgemein zugänglichen? Meint „allgemein“ z. B. einen Geschäftsbereich, in dem sich Verkäufer, Kunden und ganz allgemein Menschen aufhalten können? Und kann man daher ableiten, dass etwa in einem Wohnzimmer eine Kennzeichnung nicht erfolgen muss? Auch wenn dort Besucher, Handwerker usw. eintreten können und wie der Bewohner selbst in Kontakt mit der Glasfläche kommen können?
Der zweite Satz bezieht sich nur insofern auf den ersten Satz, dass es um „weitere Schutzmaßnahmen“ geht. Es ist fraglich und keineswegs eindeutig, dass dieser sich nur auf „Glasflächen, die bis zum Fußboden… herabreichen“ bezieht oder dass es auch hier nur um allgemein zugängliche Verkehrsflächen geht. Selbst dann sollte aber das Wort „allgemein“ nicht überbewertet werden, wie noch genauer gezeigt wird.
Der zweite Satz hebt dies doppelt hervor: Dort steht, dass „Schutzmaßnahmen … für größere Glasflächen vorzusehen (sind).“ Der zweite Teilsatz bekräftigt dies, indem er es auf die Fälle beschränkt, in denen Schutzmaßnahmen notwendig sind.
Die angesprochene Verkehrssicherheit ist nicht selbsterklärend, und sie ist sehr umfassend auszulegen. Interpretiert wird die Verkehrssicherheit häufig so, dass diese einen möglichen Kontakt mit der Glasfläche insbesondere aus einer Körperbewegung (dem Gang z.B.) heraus impliziert, wobei es keine dauerhafte Abschirmung oder einen Abstand gibt. Dieser Teilsatz impliziert eine Bewertung! Leider wird er häufig als Ausnahme gedeutet. Der Interpret behauptet in der Bewertung dann, dass die Verkehrssicherheit schon durch normales Floatglas gegeben sei und deshalb keine Schutzmaßnahmen erforderlich seien. Im Folgenden wird gezeigt, dass es inzwischen Hinweise für eine dem Stand der Technik entsprechenden Bewertung gibt.
Die wesentliche Information der MBO ist, dass Glasflächen eine über die bloße Kennzeichnung hinausgehende Schutzmaßnahme erfordern. Nur für kleinere Glasflächen kann wohl hiervon abgewichen werden.
Weitere relevante Richtlinien
Für diese Interpretation, auch wenn sie im Widerspruch zu vielen bisherigen Auslegungen steht, spricht, dass es zwar nicht in der MBO, aber in anderen Normen und Richtlinien unterstützende Regelungen gibt!
Ganz wesentlich ist, dass der Gesetzgeber in eigenen Vorschriften wie der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), die nötige Konkretisierung vornimmt! Diese verschärft nicht die Anforderungen, sondern erläutert die Forderung der MBO, und dies zudem für einen Bereich (z.B. Büro) mit wirklich eher geringsten Anforderungen durch den betroffenen Personenkreis und dessen Verhalten.
„1.5 (3): Durchsichtige …Wände… müssen deutlich gekennzeichnet sein. Sie müssen entweder aus bruchsicherem Werkstoff bestehen oder… abgeschirmt sein, dass die Beschäftigten nicht mit den Wänden in Berührung kommen und beim Zersplittern der Wände nicht verletzt werden können.“ Anhang ArbStättV nach § 3 Abs. 1
Angaben zu Glasgrößen oder zu der Einbaulage werden hier nicht gemacht (siehe dazu die ASR). Da eigentlich alle Gebäude bis auf Wohnungen Arbeitsstätten sind, gilt diese Vorschrift für einen sehr großen Teil der Glaskonstruktionen. Für einige Bereiche sind sogar höhere Forderungen vorhanden.
Es bleibt nun die Frage, ob man in privaten Wohnungen anders verfahren kann. Dazu ist zu klären, was der Stand der Technik ist. Die MBO besagt nicht, dass Glasflächen ohne Schutz, wenn Personen mit diesen in Kontakt kommen können, aus nicht bruchsicherem Glas ausgeführt werden können! Dies hätte, wenn gewünscht, einfach hinzugefügt werden können!
Die Verkehrssicherheit hängt im Wesentlichen von der Nutzung ab (Büro = gering, Sporthalle = hoch). Schutzwürdig sind vor allem Glasflächen, die aus einer Bewegung heraus gestoßen werden können. Weniger notwendig ist es, vertikale Glasflächen über einer ausreichenden Brüstung oder über dem Kopfraum zu sichern, die wohl tendenziell nur beim Putzen, aus dem Stand, berührt werden. Je nach Fall kann auch hier ein höheres Schutzziel vertreten bzw. erwartet werden. Es ist wichtig, eindeutigere Regelungen zu haben. Dieses Problem ist bisher in wichtigen Teilaspekten in den Unfallverhütungsvorschriften und in Zukunft durch die DIN 18008 Teil 6 geklärt, die auch weitere Beurteilungskriterien an die Hand gibt.
Hier steht der Handwerker in der Bringschuld
Kann der private Bauherr für sich eine andere Einschätzung und Beurteilung, aufbauend auf der MBO, vornehmen? Das Problem wird sein, dass der Bauherr in der Regel beraten wird. Er entscheidet aufbauend auf der Beratung. Eine Beratung, die die Risiken und Abweichungen von dem Stand der Technik nicht erwähnt, kann als fahrlässig ausgelegt werden. Die Ausführung von Leistungen gegen den Stand der Technik aufgrund des Wunsches von privaten Bauherren ist bekanntermaßen risikoreich.
In der Wohnung gibt es tendenziell mehr Personen mit höheren Schutzzielen als im Büro, nämlich Senioren, Kinder, Kranke. Um zu zeigen, dass die oben gemachte Interpretation dem Stand der Technik entspricht, lässt sich auf die vorhandene Normung und Regelung verweisen:
- Die DIN 18008 gestattet als Bauprodukt auf der Stoßseite nur Gläser mit sicherem Bruchverhalten! Es wäre nicht zu verstehen, weshalb man eine Scheibe der Kat. C aus z. B. ESG–H ausführen müsste, und eine danebenliegende Scheibe ohne Absturzsicherung nur in Float.
- Der Teil 4 der DIN 18008 setzt konsequent die richtige Auslegung der MBO um, indem er Schutzmaßnahmen für Glasflächen vorsieht. Dem Gegenstand der Norm entsprechend kann dies natürlich nur durch Glas mit sicherem Bruchverhalten erfolgen. Die bei der Absturzsicherung zusätzlich zu beachtenden Belange der Personen unter dem Glas spielen dabei übrigens keine Rolle. Es wäre theoretisch möglich, aber fahrlässig, eine Verglasung mit nicht sicherem Bruchverhalten auf der Stoßseite auszuführen.
Die Klärung liegt hier in der Natur der Sache. Die Absturzsicherung mit Glas setzt den Kontakt ohne Abschirmung voraus. Sobald die Schutzmaßnahme so erhöht wird, dass zum Beispiel aus der Kategorie A eine Kategorie C wird und dann durch weitere Verstärkung die Klassifizierung einer Absturzsicherung entfällt, so erfüllt sich auch gleichzeitig die Verkehrssicherheit. Aus dieser Norm ist also die Verwendung von Glas mit sicherem Bruchverhalten für alle Scheiben, die unter Holmhöhe liegen, ableitbar. Dies gilt für alle Verkehrsbereiche. Fraglich ist, ob sich kleine Scheiben auf Abmessungen unter 300 mm beziehen. Was ist also zu tun? Man muss entsprechend der Vorgabe der MBO auch in Wohnungen festlegen, ob entweder Schutzmaßnahmen an der Verglasung oder eine sichere Verglasung vorhanden bzw. notwendig sind oder ob diese entbehrlich sind.
Die Beurteilung kann in Anlehnung an die DIN 18008 und die Unfallverhütungsvorschriften erfolgen. Dies lässt sich recht sicher als Stand der Technik werten. Ein Abweichen von diesen Grundsätzen bedarf der wohlüberlegten Begründung. Es ist falsch und wenig praktikabel, das unsichere Glas als den Standard zu betrachten und für den Einsatz von sicherem Glas eine ausdrückliche Begründung zu verlangen!
Das sagen die Vorschriften zur Unfallverhütung
Auch die Unfallverhütungsvorschriften interpretieren die MBO im obigen Sinne und schreiben vor, dass Glaswände und Türen aus Glas mit sicherem Bruchverhalten bestehen oder abgeschirmt sein müssen, oder eben außerhalb des Verkehrsbereiches liegen. Spezielle, weitergehende Vorschriften gibt es z. B. bei Kindern in Schulen/Kindergärten. Dort sind Verglasungen über der Brüstung mit Glas mit sicherem Bruchverhalten auszuführen.
In diesen öffentlichen Bereichen gibt es konkretisierende Angaben, die den Graubereich auflösen und alles stark vereinfachen. Es gibt keine Konkretisierung, die es erlaubt, dem Körperkontakt ausgesetztes Glas mit nicht sicherem Bruchverhalten und ohne Abschirmung auszubilden.
Im öffentlichen Bereich ist in den meisten Fällen kein Fachplaner notwendig, der die genauen konstruktiven Randbedingungen der Einbausituation, der Bauart, der Nutzung und auch des Glases im Einzelfall bewertet und dann eine Lösung vorschlägt, die er auch verantwortet. Denn die Vorschriften geben für verschiedene Nutzungen einfache Regelungen vor, und die übliche Lösung ist die Verwendung von bruchsicheren Gläsern insbesondere für bodentiefe Verglasungen bzw. für Verglasungen unter der Brüstungshöhe. Dies ist der Stand der Technik. Diese Vorschriften sind in diesen Bereichen verpflichtend anzuwenden.
Es macht zudem Sinn, diese Vorschriften auch im Privathaushalt anzuwenden, denn der Haushalt ist der Ort mit der höchsten Unfallrate. Weshalb wohl? Erinnert sei an die gesellschaftlich anerkannten hohen Schutzziele von z.B. Senioren auch in der Wohnung.
Wie viel Sicherheit braucht der Privatkunde
Natürlich ist es richtig, dass der private Bauherr/Kunde nicht gezwungen ist, sich an die Unfallverhütungsvorschriften zu halten. Er kann diese unbeachtet lassen, muss dann aber mit erhöhten Unfallrisiken rechnen – für die er dann auch haftet. Aber weshalb sollte einem Bauherr seine Gesundheit zu Hause weniger wichtig sein als z. B. dem Staat die Gesundheit seiner Beamten? Aus diesem Grunde wird der Fachplaner – oder der Handwerker – gut daran tun, auf die Unfallverhütungsvorschriften zu verweisen, als eine Konkretisierung der MBO, oder direkt in deren Sinne die Konstruktion auszuführen, um Regressforderungen zu vermeiden.
Um allen das Leben einfacher zu machen, sollte die Normung eindeutig vorgeben, welche Maßnahmen erforderlich sind, denn damit wäre auch für Handwerker und Planer endlich Rechtssicherheit gegeben. Sinnvoll wäre die weitergehende Konkretisierung der MBO in der Normung.—