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Im Interview mit Dr. Dagmar Everding

“Wir brauchen Bauteile für barrierefreie Gebäude“

Glaswelt – Ist die demografische Entwicklung bei der Zulieferindustrie angekommen?

Dr. Dagmar Everding – Die demografische Entwicklung bedeutet unter anderem, dass der Anteil älterer Menschen ansteigt. Damit steigt auch der Anteil von Menschen mit Einschränkungen beim Sehen, Hören, Gehen, in der Orientierung und in der Beweglichkeit. Mehr Menschen benötigen Wohnungen, die barrierefrei sind. Diese sind entweder durch Neubau oder durch Nachrüstung des Bestandes zu schaffen. Aber auch Geschäfte, Freizeitstätten und Gesundheitseinrichtungen müssen sich zunehmend auf eine ältere Kundschaft einrichten, die wegen ihrer Einschränkungen auf bauliche Vorkehrungen angewiesen ist. Diese Nachfrage nach barrierefreien Um- und Neubauten besteht zwar bereits, scheint aber in ihrem Volumen noch nicht einen Anteil erreicht zu haben, dass die Bauindustrie ihre Produkte auf breiter Basis umstellt. Einige innovative Firmen haben in den letzten zwei Jahrzehnten Entwicklungsarbeit in diesem Bereich geleistet. Ob aber der Markt diesen Einsatz schon mit den erwarteten Absatzzahlen honoriert, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls dort, wo Normen direkt in die Ausschreibungen einfließen, z. B. bei Aufzügen, hat sich die barrierefreie bauliche Ausgestaltung schon durchgesetzt.

Glaswelt – Welche Anforderungen werden an die behindertengerechte Ausführung von Fenstern gestellt?

Dr. Everding – Fenster haben im Wesentlichen zwei Funktionen. Zum einen sollen sie für die Belichtung, Belüftung und Besonnung von Räumen sorgen, zum anderen ermöglichen sie den Nutzern von Räumen den Ausblick und je nach Stockwerkshöhe auch sozialen Kontakt nach außerhalb des Gebäudes. Gut belichtete Aufenthaltsräume sind für alle Menschen wichtig – und bei nachlassendem Sehvermögen ganz besonders. Einen Raum in der Wohnung zu haben, der auch im Winterhalbjahr einige Stunden Sonneneinstrahlung erhält, gehört nach meiner Auffassung zu den Entwurfsprinzipien eines qualitätvollen Wohnungsbaus. Fenster sollen über eine Bemessung verfügen, dass die Räume möglichst bis in ihren hinteren Bereich belichtet werden. Bei den Scheiben spielt auch der Lichtdurchlass eine Rolle. Menschen im Rollstuhl oder im Krankensessel benötigen im Haupt­aufenthaltsbereich ein Fenster mit einer niedrigen Brüstungshöhe (60 cm anstatt 90 cm) für ihren Ausblick nach außen. Verschattungs- und Verdunklungselemente wie z. B. Rollläden, Markisen, Jalousien und Vorhänge können mittels Fernbedienung gesteuert werden. Passende Griffe zum Öffnen oder Kippen befinden sich auf einer Bedienhöhe von 85 cm oberhalb des Fußbodens. Konventionelle Griffe lassen sich durch mechanische Übertragungen (wie bei Oberflügeln) und auch durch fernsteuerbare Elektromotoren ergänzen.

Glaswelt – Gibt es für solche Anwendungen bereits entsprechende Zertifizierungen?

Dr. Everding – Also barrierefrei zertifizierte Fenster sind mir persönlich nicht bekannt. Macht der Architekt Vorgaben zur Barrierefreiheit, lassen sich diese in der noch stark handwerklich geprägten Produktion durchaus umsetzen. Denke ich allerdings an die mir bekannten Wohnanlagen des betreuten Wohnens alter Menschen, so sind dort keine barrierefreien Fenster eingebaut. Dies dürfte weniger der Bereitschaft der Fensterbaufirmen als einer niedrigen Detailtiefe in der architektonischen Ausführungsplanung und Ausschreibung geschuldet sein.

Glaswelt – Gehen Normen auf behindertengerechte Elemente ein?

Dr. Everding – Die Normen des barrierefreien Bauens wirken sich natürlich auch auf Anforderungen an Bauelemente aus. Man muss allerdings sehen, dass es für eine Vielzahl von Bauelementen eigene Normen gibt, die eine ständige Orientierung für die Zulieferindustrie darstellen. In diese Bauteil-Normen fließen die Aspekte des barrierefreien Bauens erst nach und nach ein. Teilweise haben sich engagierte Mitglieder der „Bauteil“-Normenausschüsse schon in den letzten Jahren um Barrierefreiheit gekümmert. Sie haben die Anforderungen an das jeweilige Bauteil mit den Normen für barrierefreies Bauen abgeglichen, Konflikte aufgedeckt und Lösungen entwickelt, um auch die Funktionalität des Bauteils zu sichern. Ich gehe davon aus, dass wir über die Zeit generell zu Bauteil-Normen gelangen werden, in denen auch die Ausgestaltung beschrieben wird, die für den Einsatz in barrierefreien Gebäuden und Anlagen benötigt wird.

Glaswelt – Wie sehen die Anforderungen an Türen aus?

Dr. Everding – Bei den Türen darf man nicht nur die Tür und ihren Rahmen sehen. Aus Sicht von Menschen, die in ihren Sinneswahrnehmungen eingeschränkt sind, spielen die Schwellenlosigkeit, die Durchgangsbreite und die Auffindbarkeit eine zentrale Rolle. Mit einer Tür ist oft auch der Wechsel des Niveaus von einem Raum zum anderen verbunden. Beim barriere­freien Bauen sind Schwellen unzulässig. Dies gilt auch für Balkontüren. Die geforderte Durchgangsbreite bei Türen von 90 cm stößt insbesondere im Wohnungsbau oft auf Unverständnis. Sie wird allerdings von Menschen in Elektrorollstühlen unbedingt benötigt. Und wer schon einen alten (demenzkranken) Menschen mit Rollator begleitet hat, weiß ausreichend breite Türen zu schätzen.

Glaswelt – Was sollte zur besseren Orientierung noch umgesetzt werden?

Dr. Everding – Auf die Eingangstüren von öffentlich zugänglichen Gebäuden sollen Auffindestreifen als Bodenindikatoren zuführen. Damit können auch blinde Menschen eine Orientierung erhalten. Viele Bahnhöfe in Deutschland werden zur Zeit mit solchen Bodenindikatoren nachgerüstet, die den Weg zum Reisezentrum, zu den Gleisen und zu den Aufzügen bzw. Aufzugstüren weisen. Die Auffindestreifen sind durch Rillensteine tastbar und farblich kontrastierend zum übrigen Bodenbelag. Bei den Türen ist leider der Kontrast oft nicht gegeben. Der Rahmen hebt sich z. B. nicht von der Umgebung ab. Glastüren vermitteln häufig den falschen Eindruck, als ginge es ohne Zwischenbauteil von einem Raum in den anderen weiter. Die Motive für den wachsenden Einsatz von Glastüren verstehe ich: Die Tür soll nicht als Grenze und Abschottung wirken, sondern es soll zum Betreten des Raumes eingeladen werden, indem er sich durch die Glastür optisch nach außen öffnet. Ein weiteres Motiv ist die Verbesserung der Belichtung von Räumen. Die Nachteile von Glastüren sind oft nicht bekannt. Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen erkennen das Bauteil nicht. Menschen im Stress erkennen es zu spät. Beide Varianten lösen Unfälle aus, die leider gravierend sein können.

Glaswelt – Gibt es behindertengerechte ­Elemente in der Serienanfertigung?

Dr. Everding – Für die Serienfertigung eignen sich vor allem Produkte, die in ihren Maßen nicht an spezielle Gebäudeplanungen angepasst werden müssen. Als Beispiele nenne ich Rillensteine für die Bodenindikatoren, Bauteile und Ausstattungen in Sanitärräumen, Handläufe als Meterware, Türgriffe und Türsysteme. Als Serienprodukte kenne ich Stadtmobiliar wie Sitzbänke und Toilettenhäuser für den öffentlichen Raum. Für die Zukunft zeichnet sich ein großer Entwicklungsraum für spezielle Barrierefrei-Produktserien ab.

Glaswelt – Was sagen Sie zur Farbgebung?

Dr. Everding – Farben spielen beim barrierefreien Bauen eine besondere Rolle, weil mit ihrer Hilfe Informationen besser, schneller und eindeutiger erkennbar sind. Dabei geht es nicht um eine buntere Welt, diese kann auch verwirren. Es geht um die bessere Unterscheidung einer Information oder eines Elementes vor einem andersfarbigen Hintergrund, z.B. Hausnummern vor der Fassade, Türrahmen vor der Flurwand, Markierung der Treppenstufe, Auffindestreifen zum Aufzug, Fenstergriff vor dem Fensterrahmen, Waschbecken vor der gefliesten Badezimmerwand. Solche sinnvollen Kontraste helfen nicht nur Menschen mit eingeschränkten Sehvermögen, sich zu orientieren, sondern z. B. auch demenzkranken Personen. Generell vermitteln gut erkennbare Orientierungszeichen eine Sicherheit im Raum, auch in hektischen oder gar Gefahrensituationen.

Glaswelt – Sind von Architekten heute bevorzugte Farbgebungen behindertengerecht?

Dr. Everding – Die ästhetischen Vorstellungen vieler Architekten treffen sich mit unseren eigenen Schönheitsempfindungen. Die von ihnen gewählten Farben beruhen auch auf rationalen Überlegungen. Nimmt man als Beispiel den Straßenpoller, der wildes Parken unterbinden soll. Bei der Straßenraumgestaltung stellt er ein störendes Element dar, das die Offenheit und Flächigkeit der Raumwirkung unterbricht. Deshalb wird für Poller in der Regel eine dunkle Anthrazitfarbe gewählt. Ein Poller ist gleichzeitig ein Hindernis, das der Fußgänger rechtzeitig erkennen muss. Kanariengelbe Poller würden mir nicht gefallen. Ein ästhetisches und gleichzeitig kontrastreiches Farbdesign bedarf einer großen Sorgfalt. Für gelungene Farbgestaltungen beim barrierefreien Bauen wünsche ich mehr Musterbeispiele.

Glaswelt – Viele Architekten bevorzugen viel Glas – ist das behindertengerecht?

Dr. Everding – Für den vermehrten Einsatz von Glas-Bauelementen sprechen wichtige Gründe. Mit Glas lassen sich dunkle, versteckte Ecken vermeiden, mehr Einblicke und Durchblicke schaffen, die unsere Räume offener, lichter und transparenter machen. Glaswände und Glasdächer lassen eine größere Nähe zur Natur auch innerhalb von Gebäuden zu. Wir sehen den Sternenhimmel oder rasende Wolken. In überglasten Innenhöfen kann man sich neben subtropische Pflanzen ausruhen. Glaswände und Glastüren werden zu einem Problem, wenn sie sich quer oder längs zu einer Lauffläche befinden. Dann kann es geschehen, dass man sie nicht rechtzeitig erkennt. Gegen diese Unfallgefahr helfen Markierungen, Pflanzen und andere Aufmerksamkeitserzeuger.

Glaswelt – Ihre Wünsche an die Glas-, ­Fenster- und Türenbranche?

Dr. Everding – Das Engagement und die Innovationskraft von einzelnen Produktionsfirmen halte ich für wichtig. Für die Breitenwirkung brauchen wir Produktnormen für Bauelemente, die die Anforderungen für den Einsatz in barrierefreien Gebäuden und baulichen Anlagen berücksichtigen. Bei dieser Aufgabe ist auch die Branche selbst gefragt, denn sie trägt mit ihren Vertretern einen Großteil der Arbeit in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen. Mit meinem Handbuch für barrierefreies Bauen möchte ich dafür werben, sich in allen Bereichen der gebauten Umwelt für eine barrierefreie Gestaltung einzusetzen. —

“Handbuch Barrierefreies Bauen“

Das „Handbuch Barrierefreies Bauen“ von Dr. Dagmar Everding ist ein Leitfaden zur DIN 18040 und weiteren Normen des barrierefreien Bauens. Das Fachbuch veranschaulicht auf 220 Seiten, praxisnah die Anforderungen des barrierefreien Bauens und erläutert die Vorgaben der neuen DIN 18040 Teil 1 und 2. Dabei berücksichtigt die Autorin die Anforderungen an Wohnungen, öffentliche Gebäude und Arbeitsstätten, an Außen- und Verkehrsanlagen sowie an die barrierefreie Gestaltung von Städten und Gemeinden.

„Handbuch Barrierefreies Bauen“ Verlagsgesellschaft Rudolf Müller ISBN-13: 978 3481 020 309

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