_ Mit innovativer Baukunst wandelt sich Rotterdam mehr und mehr zu einer weltweit herausragenden Architektur-Metropole. Dabei ist die neue Markthalle ein architektonisches Glanzstück. In dem Gebäude, das in Form eines riesigen Flugzeughangars gestaltet ist, finden sich auf elf Etagen über 100 Marktstände, Geschäfte und Restaurants, die von Wohnungen mit direktem Blick auf das Markttreiben flankiert sind.
Die Designintention des Gebäudes ist es, so offen und einladend wie möglich zu wirken, um Öffentlichkeit und Kunden zu gewinnen. Gleichzeitig sollte die Markthalle aber auch vor Wind und Regen schützen.
Die Lösung führte zu einem sehr spektakulären Erscheinungsbild. Zwei flexible aufgehängte Seil-Glasfassaden schützen die Eingänge an der Vorder- und Rückseite des Gebäudes und erlauben so eine maximale Transparenz bei gleichzeitig minimaler Struktur. Die transparenten Fassaden sind 42 m breit und 34 m hoch und damit die größten ihrer Art in Europa.
Die Spezialisten von Octatube entwickelten, produzierten und montierten diese einzigartigen Glasfassaden in Zusammenarbeit mit Royal HaskoningDHV (konstruktive Gestaltung) sowie den Architekturbüros MVRDV und Inbo (Innenarchitekt).
Theorie und Praxis der Seilkonstruktion
Die Glasfassade beinhaltet ein Raster aus 26 vertikalen und 22 horizontalen Seilen. Einer Tennisschläger-Bespannung ähnlich bilden sie ein aufgehängtes Netz, das als einlagige Tragkonstruktion dient. Die Seile sind vorgespannt und an den Enden in speziellen Stahlboxen fixiert, die wiederum in Betonwänden eingebettet sind. Um die Fassaden-Konstruktion von Materialspannungen zu entlasten, sind die Stahlboxen so konstruiert, dass sie größere Betontoleranzen aufnehmen können. Die galvanisierten Stahlseile laufen durch Kugelverbindungen, um Verformungen zu ermöglichen und Materialermüdung zu vermindern. Alle Seile haben einen Durchmesser von 31,3 mm, ihre Bruchfestigkeit beträgt 884 kN.
Eine der technischen Herausforderungen für die Fassadenstruktur war es, mit den hohen Vorspannkräften umzugehen, die an den Betonbogen übertragen werden müssen. Die Seile sind auf ein Maximum von 300 kN je Kabel vorgespannt, von denen 50 kN „Überkapazität“ sind, um die Folgen der Materialbewegungen des Betonkriechens auffangen zu können.
Ein stangenförmiger Knoten aus Gussstahl ist so platziert, dass sich die vertikalen und horizontalen Kabel darin in separaten Kanälen kreuzen, während sich die Ecken der Glasscheiben an einem einzelnen Punkt der Stange zusammenfügen. Der Abstand von den horizontalen Kabeln zum Glas beträgt 150 mm, der Abstand der vertikalen Kabel zum Glas 100 mm. Die 1485 x 1485 mm VSG-Scheiben sind durch runde Spannscheiben mit den Kabeln fixiert. Bei extremen Windlasten kann sich die Glasfassade in der Mitte bis zu 700 mm nach innen und außen verformen, wobei eine solche horizontale Verformungstoleranz charakteristisch für Seilnetzfassaden ist. Die Verformung bewirkt, dass sich die Kabel verlängern und die Glasscheiben bis zu 5,4 Grad drehen. An den seitlichen Rändern der Fassade, wo zwei Seiten der Glasscheiben mehr oder weniger fixiert sind, kann sich eine Ecke bis zu 50 mm nach innen und außen tordieren. Auch die Türportale besitzen ein flexibles Detail: Die Portalrahmen bewegen sich mit der Fassade, getrennt von den Drehtüren.
Alle Kabel in der Fassade sind vom gleichen Typ, jedoch ist die theoretisch erforderliche Vorspannkraft für jedes Kabel unterschiedlich. Aus praktischen Gründen wurden die Vorspannkräfte der Kabel gebündelt und auf Gruppen zu je fünf benachbarten Kabeln verteilt.
Die Kabel sind ohne Vorspannung zu kurz, um sie direkt an beiden Seiten zu befestigen. Daher wurden sie zunächst an einer Seite fixiert, um sie mit einer temporären Spannbrücke an der gegenüberliegenden Seite symmetrisch zu 50 % hydraulisch vorzuspannen.
In einem zweiten Schritt erreicht die Vorspannung dann 100 %. Während dieses Vorgangs werden alle Kabel jeweils zwischen 94 und 147 mm gestreckt. Die maximal aufgebrachte Zugkraft von 300 kN kann mit dem Gewicht von 20 bis 25 Mittelklasse-Autos verglichen werden. Die Standardgröße der Glasscheiben beträgt 1485 x 1485 mm. Die Scheiben bestehen aus teilvorgespanntem Klarglas. Die einlagigen Verbundglasscheiben haben eine Dicke von ca. 12 mm.
Die Architekten entschieden sich gegen eine Beschichtung auf dem Glas, um das Gefühl der Offenheit und Transparenz zu maximieren. Die beiden Fassaden haben eine Gesamtglasfläche von 1258 m2.
Auszeichnung für die Vision der Fassadeningenieure
Der optische Akzent des Entwurfs liegt innen auf der farbenfrohen Ausgestaltung des gewölbten Innenraums, der von einem riesigen Wandbild mit dreidimensionaler Wirkung bedeckt wird. Vor allem bei Nacht scheint das 11 000 m2 große Gemälde lebendig zu werden. Die Transparenz der Seilnetzfassaden mit nur 9 kg Baustahl pro m2 fördert diese Wirkung.
Nicht nur das Gebäude hat bereits mehrere Preise gewonnen, sondern auch die Seilnetzfassaden wurden mit dem niederländischen Bau-Preis 2015 in der Kategorie Baumaterialien und -systeme ausgezeichnet.
Die Jury lobte die gelungene Synergie zwischen Fassadenkonstruktion und Architektur, sowie den Mut und die Intelligenz der Ingenieure.
Seilnetzkonstruktionen sind ein aufstrebender Trend in der Architektur, um möglichst transparente Fassaden mit einer minimalen Menge an Material zu erzielen. Systeme und Lösungen dieser Art sind Teil der Arbeitsweise und Erfahrung von Octatube, wo alle Abteilungen des Unternehmens – vom Entwurf bis zur Umsetzung – unter einem Dach vereint sind. Die enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten war auch der Schlüssel zur Entwicklung des Gebäudes mit seiner speziellen, hochtransparenten Fassadenkonstruktion.
Sonnen- und Wärmeschutzglas aus Deutschland
Die über 11 000 m2 Glas für die Fenster der Lochfassaden des Gebäudes sowie für den Innenbereich fertigte Hero-Glas aus Dersum. „Abgesehen davon, dass dies einer der größten Aufträge unserer Firmengeschichte war, stellte das Projekt besondere Anforderungen“, so Hero-Geschäftsführer Heinrich Ross.
Für die äußeren Lochfassaden des elfstöckigen Gebäudes wurde das Isolierglas Hero-Sun S 70 / 41 eingesetzt, das Sonnen- und Wärmeschutz kombiniert. Bis zu vier Funktionen mussten die Gläser im Interieur erfüllen. Neben Wärmeschutz waren dies der Brand- und Schallschutz und in den Penthouse-Wohnungen mussten die Gläser begehbar sein. Von den 228 Apartments mit 80 bis 300 m2 Wohnfläche blickt etwa die Hälfte auf die Markthalle. Dort kommen Schallschutzgläser (Hero-Phon S) zum Einsatz. Und die Brandschutzrichtlinien der 40 m hohen Markthalle erfüllen EW-60-Brandschutzgläsern von Hero-Fire.
Aufgrund des dichten Verkehrs rund um den Bauplatz wurden Baustellen-Tickets ausgegeben, die die Anlieferung nur zu genau festgelegten Zeiten erlaubte. „Neben der beengten Verkehrs- und Anliefersituation vor Ort bestand die besondere Herausforderung darin, dass die Gläser wohnungsweise eingebaut wurden. Das bedeutete, dass unsere gesamte Auftragsabwicklung – von der Herstellung bis hin zur Auslieferung – etappenweise auf den gesamten Baufortschritt abgestimmt werden musste“, so Ross.
Die Gläser wurden wohnungsweise auf Transportgestelle verpackt, auf die jeweiligen Balkone gesetzt und mit Hebebühnen von innen – statt wie üblich von außen – eingesetzt. Die Transportgestelle durften ein Höchstmaß an Größe und Gewicht nicht überschreiten, sonst hätten die Hebebühnen sie nicht mehr ins Wohnungsinnere transportieren können. —