Glaswelt – Herr Schuller, erläutern Sie kurz das Forschungsprojekt?
Thomas Schuller – Beim Projekt „Gläsernes Glas“ war das Ziel, durch spannungsoptische Methoden, d. h. auch mittels Scanner und Software, die erreichte Glasqualität von ESG und TVG nach dem Vorspannprozess zu beurteilen und zu optimieren. Hier waren die Projektpartner auf der Suche, eine allgemeingültige und reproduzierbare Methode zu finden.
Glaswelt – Können Sie ein paar Sätze zu Anisotropien sagen?
Schuller – Normal gekühltes Glas ist optisch isotrop, das heißt die Brechzahl der Lichtstrahlen ist in alle Richtungen des dreidimensionalen Raumes gleich – das Licht wird gleichmäßig in alle Richtungen abgestrahlt. Wenn Glas aber unter Spannung steht, wird es zum doppelbrechenden Medium und anisotrop. Die Doppelbrechungen sind unter polarisiertem Licht – auch bei Tageslicht möglich – als Irisationen wahrnehmbar, was sich durch helle oder dunkle Bereiche oder bei zusätzlicher Verwendung von sogenannten Verzögerern durch farbige Muster zeigt. Nachdem auch natürliche Sonnenstrahlung stets einen gewissen Anteil an polarisiertem Licht enthält, werden die Spannungsfelder, je nach Einbauort, Lichtverhältnissen und Betrachtungswinkel, auch ohne optische Hilfsmittel sichtbar. Dies wird heute gerade bei großen Fassadenobjekten unberechtigterweise als Mangel bezeichnet.
Glaswelt – Was heißt das für die ESG-Fertigung, wo Spannung im Glas aufgebaut wird?
Schuller – Je nach Verfahren treten beim Vorspannen mehr oder weniger Anisotropien im Glas auf. Diese wollten wir im Projekt messen und bewerten.
Glaswelt – Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Schuller – Durch den Einsatz einer definierten polarisierten Lichtquelle haben wir im Projekt alle vorgespannten Glaserzeugnisse direkt am Auslauf des Kühlbereichs des Vorspannofens im Onlineverfahren gescannt (Bild 02). Dabei ist es möglich, die Gangunterschiede der jeweilig doppelt gebrochenen Wellenlängen zu messen. Am Bildschirm werden die gescannten, vorgespannten Gläser mit ihren Spannungsfeldern dargestellt (Bild 01). Die zugehörigen Daten lassen sich speichern und auswerten, d. h. der Schichtleiter oder Ofenführer interpretiert diese Daten.
Glaswelt – Welche Vorteile bringt das?
Schuller – Auf diese Weise erhält der Ofenführer direkt eine Rückmeldung und kann sofort entscheiden, ob er in die Prozesssteuerung eingreifen muss. Mit dem Scan erfolgt darüber hinaus eine Messung der Kantenmembranspannung, von der mit hoher Genauigkeit auf die eingeprägte Oberflächendruckspannung geschlossen werden kann.
Glaswelt – Wie bewerten Sie dieses neue spannungsoptische Prüfverfahren?
Schuller – Diese Art der Spannungsmessung eignet sich zur werkseigenen Produktionskontrolle und ist heute bereits nach EN 12150-1 als zulässige zerstörungsfreie Methode anerkannt.
Durch den Einsatz unseres neu entwickelten Inline-Scanners, den wir im Rahmen des Forschungsprojekts eingesetzt haben, erhält der Glashersteller bzw. der Glasverarbeiter optimale Qualitätsbewertungen. Und das gibt ihm Prozesssicherheit. Denn bei jeder Einzelscheibe wird die Homogenität der Spannungsverteilung über die gesamte Glasfläche gemessen und dokumentiert, inklusive der eingeprägten Spannungen. Der Bruchtest könnte damit vollständig ersetzt werden .
Glaswelt – Was leisten der Scanner und die Software noch?
Schuller – Mit dem Einsatz unseres Inline-Scanners bzw. der erhobenen Daten ist der Verarbeiter in der Lage, seinen Vorspannprozesses zu optimieren, was wiederum hilft, das Auftreten von Anisotropien im Glas zu minimieren und eine Reproduzierbarkeit der Qualität zu erreichen. Weiter ist es möglich, die Kantenmembranspannung ab einer Glasdicke d 6 mm zu bestimmen. Zudem lassen sich Glasfehler detektieren sowie die Abmessung der Gläser und ihre Kontur messen. Alle Daten werden in einem Archiv gespeichert, was projektübergreifende Vergleiche und Auswertungen zulässt.
Glaswelt – Was denken Sie, welche Folgen kann diese Messungsmethode für die Branche bedeuten?
Schuller – In diesem Zusammenhang könnte neu definiert werden, inwieweit die zeitweise sichtbaren Anisotropien zu akzeptieren sind, bzw. ab welchem objektiv zu messenden Gangunterschied dann Anisotropien als Mangel anzusehen sind. In der Technischen Richtlinie Nr. 9 zur Beurteilung der visuellen Qualität von Glas sind Anisotropien als mehr oder minder unvermeidbare Erscheinungen bei der Produktion von ESG und TVG im thermischen Vorspannprozess angesehen. Die Wahrnehmung der Irisationserscheinungen bzw. der Hell- und Dunkelfelder an der Glasoberfläche werden als möglich und akzeptabel bewertet. In der Produktnorm EN 12150-1:2010-11 ist eine Anisotropie kein Mangel, sondern ein produktimmanenter, sichtbarer Effekt. Das bedeutet, dass die Spannungsfelder, die als Hell-/ Dunkelfelder und im Extremfall sogar als farbige Zonen wahrnehmbar sind, generell zu akzeptieren sind. Mit dem Einsatz des neu entwickelten Scanners und den aus dem Entwicklungsprojekt „Gläsernes Glas“ gewonnenen Erkenntnissen, haben die ESG-Hersteller die Möglichkeit, die thermisch vorgespannten Gläser qualitativ zu optimieren und damit die störenden Anisotropieeffekte soweit als möglich zu reduzieren.
Glaswelt – Wie schnell werden die Ergebnisse in die Praxis umgesetzt?
Schuller – Unser Produkt ist fertig, jedoch wird noch einige Zeit vergehen, bis sich die neuen Erkenntnisse aus der Forschung und Entwicklung in der ganzen Breite der Produktion von thermisch vorgespannten Gläsern auswirken werden.
Glaswelt – Wo sehen Sie Einschränkungen?
Schuller – Auch mit den aus dem Projekt gewonnenen Erkenntnissen und der damit verbundenen Optimierung der Produktionsprozesse werden die optischen Erscheinungen von Anisotropien nicht absolut zu verhindern und weiterhin als gegeben hinzunehmen sein.
Glaswelt – Sind Sie mit dem Projekt zufrieden und geht es weiter?
Schuller –Wir sind zufrieden. Die Zusammenarbeit mit allen Projektbeteiligten war sehr gut und konstruktiv. Mit den Firmen der Uniglas GmbH werden wir die gewonnenen Erkenntnisse weiter vorantreiben und vertiefen.
Glaswelt – Ihr Fazit in einem Satz?
Schuller – Die zerstörungsfreie Messung der Spannungszustände von vorgespanntem Glas ist ein großer Fortschritt für die Reproduzierbarkeit der Qualität von ESG und TVG, unsere Scanner-Technik (www.glass-iq.com) ist maßgeblich daran beteiligt. —
Die Fragen stellte Matthias Rehberger.
Die Projekt-Beteiligten
- RWTH Aachen, Institut für Stahlbau, Prof. Markus Feldmann, Pietro Di Biase, Benjamin Schaaf
- Hochschule München, Prof. Christian Schuler, Labor für Stahl- und Leichtmetallbau, Steffen Dix
- Anlagenbau und Softwareentwicklung: Softsolution GmbH, Thomas Schuller, Hermann Sonnleitner, Andreas Hammerschmidt
- Glashersteller: VitroDUR GmbH, Heinz Schneider, Uwe Bergmann; sowie Flintermann GmbH, Reinhard Gruber, Egger Glas GmbH, Phillip Schuller; Uniglas GmbH, Thomas Fiedler